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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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älter als ihre Mutter Elza, als sie mit ihr schwanger war. Es war das Jahr der Gründung der Volksrepublik China durch Mao Dsedong. Oder …«
    Er wühlte in den Papierstreifen, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er las, was auf dem bekritzelten Zettel stand, wedelte damit durch die Luft und wandte sich wieder an die beiden. »Ich habe mich geirrt. Die Gründung der Volksrepublik China durch Mao erfolgte im Oktober 1949. Erst vor zwölf Jahren.«
    Paulo nahm den Zettel. Darauf stand: »Mao – 49 – VRC «. Dann einen anderen: » Casablanca – 39 – Ingrid B.«. Nun griff er wahllos Zettel heraus: »Adhemar de Barros – 50 – GV «; » GV  – Aug 54 – Lacerda«; »Franco – 37 – Guernica«; »Eisenhower – 52 – USA «; »Ary Barroso – 1939 – Aquarela do Brasil«. Das alles war für ihn geheimnisvoll und unverständlich.
    »Was machen Sie denn da?«
    »Ich stelle Gleichungen auf«, antwortete Ubiratan.
    »Gleichungen?«, fragte Paulo erstaunt.
    »Gleichungen. Ich versuche, Aparecida in der Welt zu platzieren, in der sie lebte. Hier und im Ausland. 1952, im Jahr ihrer Heirat, wurde ein General aus dem Zweiten Weltkrieg zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, um das amerikanische Imperium in der westlichen Welt anzuführen, der Bürgermeister war fünfundvierzig Jahre alt, wenn er dreißig war, als Aparecida geboren wurde, und Senator Marques Torres war … äh … dreiundsiebzig, als er sich das Leben nahm. Also war er 1952 siebzig. Siebzig minus fünfzehn ergibt …«
    »Fünfundfünfzig«, antwortete Eduardo prompt. »Welcher General?«
    »Der Senator hat sich das Leben genommen?«, fragte Paulo überrascht.
    »Ja, Paulo. General Eisenhower, Eduardo. Der Senator war fünfundfünfzig, als Aparecida geboren wurde. Minus zwölf?«
    »Dreiundvierzig«, sagte Eduardo, widerwillig, aber auch ein bisschen stolz.
    »Dreiundvierzig! So alt war Senator Marques Torres, als Elza geboren wurde.«
    Ubiratan schlug den Notizblock auf und schrieb, vor sich hin murmelnd: »fünfundfünfzig, als Elza Aparecida zur Welt brachte … Siebzig bei Aparecidas Hochzeit … Und sein Sohn, der Bürgermeister …. war dreißig, als Aparecida geboren wurde. Dreißig! Ein schönes Alter für einen gesunden Mann.«
    »Jetzt ist alles vorbei, oder?«, schloss Paulo mit einem Seufzer.
    »Was ist vorbei?«, erkundigte sich Ubiratan, schloss den Notizblock, schraubte den Füller zu und legte ihn auf das Deckblatt des Spiralhefts.
    »Die Ermittlungen. Unsere Ermittlungen. Das bringt ja jetzt nichts mehr, wo er tot ist, oder?«
    Ubiratan betrachtete sie lange, einen nach dem anderen. Er sah zwei lehmverschmierte Jungen mit schmollenden Mienen.
    »Wovon redet ihr eigentlich?«
    »Sie haben nichts von dem mitgekriegt, was wir erzählt haben!«, brach es aus Eduardo heraus. »Nicht ein Wort! Nichts, nichts, nichts!«
    »Natürlich habe ich euch zugehört. Der Zahnarzt ist tot, euch hat ein Auto angefahren, Madalena ist gestorben, der See ist abgebrannt, es gibt jetzt eine Absperrung und … was noch?«
    Paulo war wütend, dass sein persönliches Drama dem alten Mann völlig gleichgültig zu sein schien:
    »Mein Fahrrad ist total hinüber! Kaputt! Und Sie machen hier Matheaufgaben! Wenn mein Vater das sieht …«
    »Gleichungen«, verbesserte Ubiratan, legte die Zettel zu zwei Haufen zusammen und verstaute diese in je einer Seitentasche seines Jacketts.
    »Jetzt, wo der Zahnarzt sich umgebracht hat, bringt es ja nichts, nach dem wahren Mörder zu suchen«, sagte Eduardo niedergeschlagen.
    »Und warum nicht?«
    »Na ja … Anita wurde ermordet und …«
    »Aparecida«, korrigierte Ubiratan.
    »Aparecida. Sie wurde ermordet, und der Mörder hat sich umgebracht.«
    »Der falsche Mörder!«, beeilte sich Paulo zu verbessern.
    »Jetzt gibt es nichts mehr zu ermitteln, weil es keinen Unschuldigen mehr gibt, den man aus dem Gefängnis befreien muss«, schloss Eduardo.
    Ubiratan nahm die Brille von der Nase, klappte sie zusammen und steckte sie in die Innentasche seines Jacketts.
    »Wer sagt, dass der Zahnarzt unschuldig war?«, fragte er und kreuzte die Arme.
    »Aber … Sie haben doch selbst gesagt, dass …«
    »Ich habe nie behauptet, dass der Zahnarzt unschuldig ist«, entgegnete Ubiratan und stand auf.
    »Er … er …«, stammelte Eduardo.
    »Der Kampf, die Messerstiche, die …«, versuchte es Paulo.
    »Es gibt viele Arten, einen Menschen zu töten. Aparecida wurde lange Zeit vor ihrer Ermordung

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