Der letzte Tag der Unschuld
den Füßen trampeln können; er wollte mit zugehaltenen Ohren laut pfeifen. Stattdessen vergrub er wütend die Fäuste in den Taschen seiner völlig verdreckten Hose.
»Haben Sie gehört, was Eduardo und ich Ihnen erzählt haben?«
Ubiratan beugte sich über die Zettel mit den Notizen, nahm einen von ihnen und wedelte damit vor den Jungen herum.
»Guernica. Picasso. Picasso-Guernica. Im selben Jahr: 1937. Ob Aparecida jemals von Picasso gehört hat?«
»Ah!«, erinnerte sich Eduardo. »Außer dem Selbstmord war da noch die Sache am See.«
»Sie haben alles rund um den See abgebrannt!«
»Alles.«
»Da, wo wir sie gefunden haben.«
»Ihre Leiche. «
»Sie haben uns gesagt, dass wir vielleicht rausfliegen, und alles mit Stacheldraht abgesperrt.«
»Von der Schule fliegen: Der Schulleiter hat gedroht, uns rauszuschmeißen«, erklärte Eduardo. »Und die Absperrung ist rund um den See. Sie müssen sie in der Nacht von gestern auf heute gezogen haben. Und daran hängt ein Schild ›Zutritt verboten‹.«
»Und ihre Großmutter ist gestern Abend gestorben.«
»Aparecidas Großmutter. Dona Madalena ist gestorben.«
»Nachdem wir dort waren.«
»Sie ist gestern gestorben.«
»Und auf dem Rückweg hat uns ein Auto angefahren.«
»Heute. Auf dem Rückweg vom See. Eben gerade.«
»Mein Fahrrad ist total hinüber!«
»Es hat nen Achter.«
»Das Einzigste, wovor ich Angst habe, ist, dass mein Vater das sieht …«
»Das Einzige. «
»1937 wurde der Estado Novo gegründet. Im selben Jahr. Wisst ihr, was der Estado Novo war?«
Eduardo blieb hartnäckig:
»Der Zahnarzt, Ubiratan.«
»Wisst ihr’s oder wisst ihr’s nicht?«
»Er hat sich im Gefängnis umgebracht.«
»Paulo: Weißt du es?«
Paulo seufzte resigniert.
»Mehr oder weniger. Der Estado Novo war Getúlio Vargas. Aber wir haben gerade gesagt, dass der Zahnarzt …«
»Und das ist alles, was ihr wisst? Weiter haben sie euch in der Schule nichts beigebracht als diese banale Vereinfachung?«
»Doch, natürlich.« Eduardo warf sich in die Brust. »Der Estado Novo war die Regierung von Getúlio Vargas, nachdem er den Kongress aufgelöst und alle politischen Parteien abgeschafft hat. Es war die Zeit, in der die Arbeitergesetze verabschiedet wurden, die Frauen das Wahlrecht bekamen und der ganze Rest. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er zu Ende.«
»1937 wurde ich zum ersten Mal gefoltert. Vargas’ Schergen haben mir sämtliche Fingernägel ausgerissen. Einen nach dem anderen. Im Jahr, in dem Aparecida geboren wurde.«
»Er hat sich umgebracht«, murmelte Paulo, und Eduardo wusste nicht, ob er damit den Zahnarzt oder den Gründer des Estado Novo meinte.
»Es war das Jahr, in dem Guimarães Rosa Sagarana schrieb. Habt ihr schon Guimarães Rosa gelesen? Steht er auf eurem Lehrplan? Oder verstopfen sie die Ohren der Jugend immer noch mit dem Gesülze von José de Alencar?«
»Noch nie. Guimarães Rosa habe ich noch nie gelesen.«
»Waren Sie Kommunist?«, fragte Paulo. »Es waren doch die Kommunisten, die von der Polizei geschnappt wurden, oder?«
»Ich habe kein einziges Buch mehr. Als ich hierherkam, habe ich sie alle weggegeben. Sonst hätte ich euch Sagarana mal geliehen. Und die Gefängnismemoiren . Hat das einer von euch beiden schon gelesen? Lernt ihr in der Schule etwas über Graciliano Ramos? In dem Buch schildert er in aller Deutlichkeit die Folgen des Staatsstreichs von 1937. Das, was passiert, wenn ein Führer die Macht an sich reißt. Ja, Paulo, ich war Kommunist.«
Er verstummte und wandte sich wieder den auf dem Tisch verstreuten Zetteln zu, in seine Aufzeichnungen vertieft. Die Jungen warteten darauf, dass er etwas zu den Ereignissen sagte, von denen sie ihm berichtet hatten, doch nichts geschah. Nach einer Weile fing Eduardo wieder an:
»Haben Sie gehört, was wir Ihnen erzählt haben?«
»Ich bin ja nicht taub. Noch nicht.«
»Und warum sagen Sie dann nichts zu dem, was …«, begann Paulo, wurde aber wieder unterbrochen.
»Ihr seid 1950 geboren, oder?«
»1949«, korrigierte Eduardo.
»Ich bin am 11. Januar 1949 geboren. Ich bin älter als Eduardo.«
»Nur einen Monat! Ich bin am 28. Februar geboren.«
»Ich bin achtundvierzig Tage älter als du!«
»Ihr wart gerade mal ein gutes Jahr alt, als Vargas wieder an die Macht gehievt wurde. Durch direkte Wahlen. Stellt euch vor: Ein Diktator, der gefoltert, gemordet und Andersdenkende verfolgt hatte, wurde demokratisch gewählt! Aparecida war damals dreizehn. Ein Jahr
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