Der letzte Tag der Unschuld
wenn er nicht wusste, dass er träumte, unglaublich real. Er war sich nicht sicher, ob ihm der Film gefiel. Er konnte diese Welt nicht ermessen, in der adelige Müßiggänger wie blind durch zerfallene Schlösser stolperten, normale Menschen in wundersamen Visionen Erlösung suchten, üppige Frauen in öffentlichen Brunnen badeten, Söhne ihre Geliebte an ihre alten Väter abtraten, diese ganze rauschhafte Bilderfolge, in der jedes Ereignis eine Bedeutung zu haben schien, die sich ihm entzog. Er verstand nur mit instinktiver Gewissheit, dass Gute und Böse, Helden und Schurken, Cowboys und Banditen, Tänzerinnen, Priester, Schauspielerinnen, Gläubige, Fotografen sich hier in nichts voneinander unterschieden. Alle teilten ein und dieselbe … dieselbe … Ihm fehlte das Wort dafür. Dafür fiel ihm ein anderes ein, von dem er selbst nicht wusste, woher er es kannte: Schäbigkeit. Wie so oft, war er traurig, ohne zu wissen, warum. Und als der Journalist nach einer durchzechten Nacht nicht verstand, was das Mädchen zu dem toten Fisch sagte, der wie ein Seeungeheuer aussah, wusste er auch nicht, warum seine Augen sich mit Tränen füllten, sodass er die letzte Szene kaum mitbekam.
Als sie aus dem Kino traten, umfing sie die nächtliche Kälte, die die Straßen leergefegt hatte. Ubiratan blieb einen Augenblick lang vor dem Plakat von La dolce vita stehen, während Paulo aufgeregt neben Eduardo herging.
»Und ihre Brüste! Hast du diese Riesenbrüste gesehen, Eduardo? Hast du gesehen, was für einen Vorbau diese Blondine hatte? Hä, Eduardo? Hast du ihre Titten gesehen? Als sie auf diesen Typen zugeht, der …«
Eduardo schwieg und zog immer noch verstohlen die Nase hoch. Paulo, der unablässig plapperte, merkte es nicht. Als Ubiratan sie eingeholt hatte, passten sie sich seinem gemächlichen Tempo an. Der Himmel über ihnen war sternenklar. Paulo hing noch immer seinen aufregenden Erinnerungen nach.
»Und dann dieses Fest! Weißt du noch, wie die Brünette auf diesem Typen geritten ist, der auf allen vieren herumgekrochen ist? Die war schon ganz schön alt, aber auch scharf. Nicht so wie die Blondine. Die Blondine war die Beste, die Schärfste von allen Frauen, mit denen der Journalist in dem Film was hatte. Viel besser als seine Frau, die mit den hellen Augen, was, Eduardo? Findest du nicht?«
Eduardo konnte sich nicht erinnern, seinen Freund je so gesprächig erlebt zu haben. Und was er redete! Sie hatten sich schon über Frauen unterhalten, hatten ihre Zweifel darüber ausgetauscht, was sie wohl mit ihnen tun müssten, wenn sie Männer waren, hatten schon darüber gestritten, ob die Muschi direkt unter dem Nabel lag oder weiter unten, an dieser geheimen Stelle, aber … so hatten sie nie geredet. Nie so offen.
»… und als der bärtige Kerl sie gepackt und hochgehoben hat, als sie schneller durch die Luft gewirbelt ist als im Zirkus und als sie dann so gelacht hat, wie sie gelacht hat, fandest du da nicht auch, dass sie die schärfste und schönste Frau ist, die du je gesehen hast, Eduardo? Sag schon, Eduardo. Findest du nicht?«
»Ich … Ich … Ich mochte die Szene mit dem Fisch. Als das kleine blonde Mädchen ihm zum Abschied vom anderen Flussufer aus zuwinkt.«
»Das war am Meer, am Strand.«
»War das kein Fluss? Dann habe ich das vielleicht nicht richtig gesehen. Aber das Mädchen, das habe ich gut gesehen. Es war sehr schön, dieses Mädchen.«
»Ach, das war doch bloß ein Kind, keine Frau.«
Unbewusst hatten sie den alten Mann, der weiterhin schwieg, in die Mitte genommen. Paulo wurde immer lauter.
»… und als die Blonde dann ins Wasser steigt, mit Kleidern und allem, und nach ihm ruft, die Szene mochte ich auch, die mit dem Brunnen, zu dem er hinkommt, und da steht sie dann halb im Wasser. Und als sie als Priester verkleidet ist, was? Und diese Stufen raufgeht, was? Wie fandest du das? Ach ja, und dann war da noch diese andere Szene, die fand ich auch, ach ich weiß nicht, die mochte ich, diese Szene mit dem Christus, der an dem Hubschrauber hängt und durch die Luft fliegt. Die fand ich ziemlich lustig, mit diesen Frauen im Bikini, die der Christusstatue winken und ihr Küsse zuwerfen, diese Szene fand ich ziemlich lustig. Du auch?«
»Ich … Ich … Ja. Aber ich glaube nicht, dass sie der Christusfigur Küsse zugeworfen haben, nein.«
»Doch, haben sie. Und sie haben dem Journalisten, der im Hubschrauber saß, was zugerufen, aber das habe ich nicht verstanden. Und als er die
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