Der letzte Tag der Unschuld
Ekberg in den Armen eines breitschultrigen Mannes zu Rock-’n’-Roll-Musik durch die Luft wirbelte, fühlte Paulo, der vom Parkett des Cine Theatro Universo aus unablässig auf die Leinwand starrte, in seinem Inneren eine Hitze aufwallen, ein Brennen, als hätte er Fieber, nur unterhalb der Gürtellinie. Sie hatte getanzt, gelächelt, ihre dichte blonde Mähne geschüttelt und das bebende Fleisch ihrer schneeweißen, halb bloßliegenden Brüste gezeigt, war bei einem Fest, dessen Sinn und Zweck er nicht verstand, barfuß zwischen den Gästen umhergelaufen und schließlich auf die Bühne gestiegen, wo der Kerl mit dem hellen Bart sie hochgehoben hatte. Je länger dieser aufreizende Balanceakt dauerte, desto stärker wurde Paulos fiebriges Unwohlsein und desto größer seine Verwirrung. Denn das Unwohlsein fühlte sich gut an, es ließ sein Herz schneller schlagen, es verlieh ihm ein Gefühl von … fast wie … fast so etwas wie Freude. Dann packte ihn ein heftiges Verlangen, das volle, bebende Fleisch der in der Luft schwebenden Frau zu berühren. Er wünschte sich, dass es seine Hände wären, die die Hüften der großen Blondine umfassten. Zu gerne hätte er seine Nase zwischen ihre vollen Brüste gesteckt, die aus dem Dekolleté des dunklen Kleides quollen, um den Duft der Ritze zwischen ihnen zu erhaschen, von der er ahnte, wie weich sie war. Und ohne zu wissen, was er tat, legte er die linke Hand an seinen Hosenschlitz. Er fühlte, wie sein Körper auf die unbekannte Verwirrung nicht mehr mit der physischen Beklemmung eines Kindes reagierte, sondern mit dem harten Beweis seines Eintritts in die Welt des Begehrens. Im Dunkeln lächelte er still vor sich hin, und mit einem Anflug von Stolz packte er seinen zum ersten Mal erigierten Penis.
Ubiratan achtete nicht auf die Liebespaare, die das Halbdunkel der Logenplätze zum Austausch von Zärtlichkeiten nutzten, die ihnen eine noch den moralischen Vorstellungen des neunzehnten Jahrhunderts verhaftete Gesellschaft in der Öffentlichkeit versagte. Bewegt und verwirrt betrachtete er stattdessen ein Italien, das er nicht mehr wiedererkannte. Zwar hatte er das Land nie besucht, doch war es ihm durch die Filme lieb und vertraut geworden, die in den vom Krieg zerstörten Straßen und Gassen von Rom, Mailand, Genua und Neapel spielten und in denen ein Volk gezeigt wurde, das versuchte, trotz allem ein Leben in Würde zu führen und eine neue Zukunft zu beginnen. Bei einem seiner letzten Kinobesuche hatte er einen italienischen Film gesehen: Umberto D. D wie Domenico, wenn er sich recht erinnerte. Es war um einen alten Rentner gegangen, der ziel- und hoffnungslos mit einem Hund durch die Nachkriegstrümmer Roms irrte, nachdem er aus seinem Haus vertrieben worden war. Und um einen Arbeiter, der wie so viele andere feststellen musste, dass das System ihn nicht mehr brauchte. Das war vor neun Jahren in einem Kino in Recife gewesen. Neun Jahre schienen ihm eine kurze Zeit. Aber für die beiden Jungen neben ihm war es fast ihr ganzes Leben. Neun Jahre Überfluss und Marshallplan hatten aus Italien diese zynische Zirkusshow gemacht, die vor ihm über die Leinwand lief. Er fühlte sich, als hätte man ihn aus einer Zeitkapsel geholt und in eine Welt geworfen, in der Frivolität, Inkonsequenz und Gleichgültigkeit die Oberhand gewonnen hatten. Dienten denn alle Errungenschaften der Menschheit nun, da die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gerade erst begonnen hatte, nur noch dem sinnlosen Genuss, hatte der Fortschritt nur bewirkt, dass die Menschen ein sinnentleertes Leben führten, hatte die Freiheit, vielleicht sogar die Pressefreiheit dieses Paradies des Irrsinns zur Folge?
Dann kam die Szene, in der Paparazzi die vom Selbstmord ihres Mannes noch nichts ahnende Ehefrau des skeptischen Intellektuellen umringten, um begierig ihre Reaktion angesichts der Leiche ihres Mannes zu erhaschen, und Ubiratan hätte am liebsten die Augen geschlossen, wie es Kinder in Horrorfilmen tun. Das Entsetzen darüber, dass für diese abstoßende Welt nur zwanzig Jahre zuvor Millionen Männer und Frauen im Kampf um Freiheit, Würde und Gleichheit ihr Leben geopfert hatten, drohte ihn zu überwältigen.
Zu seiner Rechten folgte Eduardo still und fast reglos der Handlung des Films wie einem Traum, der sich außerhalb seines Kopfes abspielte. Wie im Traum hatte das Geschehen auf der Leinwand keinerlei für ihn nachvollziehbare Logik, und doch schien es ihm, wie in seinen eigenen Träumen,
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