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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Swetlana
    Paulo stand gerade auf, die Naturkundearbeit in der einen Hand, die Bücher und zerfledderten Hefte in der anderen, als zwei Schüler die Stufen des Physik- und Naturkundesaals herunterkamen. Er schloss sich ihnen an, legte die Arbeit auf den Tisch, drehte sich um und ging hinaus.
    Genau wie abgesprochen, dachte Eduardo.
    Jetzt war er an der Reihe.
    Punkt für Punkt ging er die Antworten auf den Seiten der linierten Doppelbögen durch, die vor ihm auf dem Pult lagen. Fast alle waren richtig. Dann strich er auf einem der Bögen einiges durch, radierte anderes aus, machte eine Seite schmutzig und malte zuletzt sorgfältig die Unterschrift darunter. Er legte den Bogen unter den anderen, der tadellos sauber und ordentlich beschrieben war, und unterzeichnete diesen rasch und achtlos. Dann wartete er ab, während er so tat, als würde er alles noch einmal durchlesen.
    Als zwei Schülerinnen aufstanden, tat er das Gleiche und legte die beiden Arbeiten – die eine mit seinem Namen versehen, die andere mit Paulos – so auf den Tisch, dass die beiden Mädchen sie gleich darauf mit ihren Arbeiten verdeckten. Niemand bemerkte etwas, am allerwenigsten der Lehrer. Paulo hatte nur so getan, als hätte er seine Arbeit abgegeben.
    Das war sein bislang größter Coup: eine ganze Klassenarbeit in der Handschrift eines anderen. Er überlegte vergnügt, aber nicht ganz unernst, ob er nicht seine Pläne, Ingenieur zu werden, aufgeben und stattdessen der größte Fälscher der Welt werden sollte.
    Der Priester in der abgetragenen Soutane beendete das Gebet, schloss das schwarz eingebundene Buch und segnete den Sarg. Dann warf er einen flüchtigen Blick auf den neben ihm stehenden Polizeileutnant, schlug das Kreuzzeichen und ging, vorbei an den Totengräbern, die schon angefangen hatten, Erde auf den Sarg zu werfen. Der Polizist wartete noch ein paar Minuten, dann sprang er über das benachbarte Grab, um auf den Weg zu gelangen, und war ebenfalls verschwunden.
    Die Totengräber fuhren träge, achtlos und gelangweilt in ihrer Arbeit fort. Bald war die flache, am Tag zuvor ausgehobene Grube wieder zugeschüttet. Einer von ihnen steckte ein Holzkreuz in den rötlichen Erdhügel, der andere schulterte die Schaufeln, dann gingen sie gemeinsam davon.
    Die schwarz gekleidete Frau blieb noch eine Zeitlang stehen. In ihrem altmodisch geschnittenen Kostüm, den kurzen schwarzen Lederhandschuhen und dem Hut, dessen Schleier ihr Gesicht verdeckte, sah sie aus wie eine Figur aus einem Stummfilm. Sie schien nicht zu beten, und ganz gewiss weinte sie nicht, aber fortgehen wollte sie offenbar auch nicht. Endlich wischte sie sich die Erde von den Wildlederschuhen und ging davon.
    Am Steinkreuz angekommen, hielt sie an. Sie öffnete die Tasche, die an ihrem Arm hing, nahm eine silberne Zigarettendose und eine Zigarettenspitze aus Perlmutt heraus und steckte eine Zigarette hinein. Dann hob sie den Schleier auf die Höhe ihrer Augen und steckte sich die Zigarettenspitze in den weinrot geschminkten Mund. Ihr Gesicht war eine bleiche, undurchdringliche Maske. Sie steckte die Zigarettenschachtel wieder ein, holte ein vergoldetes Feuerzeug heraus, zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, sodass die Glut aufleuchtete. Sie hielt den Rauch eine ganze Weile in den Lungen zurück, bevor sie ihn ausstieß. Dann ging sie, die Zigarettenspitze zwischen den behandschuhten Fingern, zum Eingang, über dem die Muttergottes schwebte, umringt von körperlosen Cherubimen, die böse Schlange unter ihren Füßen. Dort traf sie auf Ubiratan.
    Hanna Wizoreck ging langsamer, und einen Moment lang sah es so aus, als wolle sie stehen bleiben. Doch dann warf sie ihm nur einen raschen, ausdruckslosen Blick zu, zog wieder an der Zigarette und ging weiter. Kurz darauf hatte sie den Friedhof hinter sich gelassen und ging an dem schwarzen Eisenzaun entlang.
    Ubiratan holte sie ein.
    Seite an Seite gingen sie durch die leere Straße, ohne ein Wort zu wechseln. Wer sie sah, musste denken, dass sie zusammengehörten.
    »Ist das nicht traurig?«, begann Ubiratan.
    Sie nahm einen tiefen Zug, ignorierte ihn ostentativ, das Gesicht zur Seite gewandt.
    »Sehr traurig, wenn ein so freigebiger Mensch sein Leben fortwirft. Ein Zahnarzt, Mitglied der besten Gesellschaft, endet in einem einfachen Sarg wie ein Bettler. Ist das nicht grausam?«
    Sie blies den Rauch in die Luft, ohne zu antworten. In der warmen Morgensonne war rund um ihre geschminkten Lippen eine Unzahl feiner

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