Der letzte Tag der Unschuld
Akt der Barmherzigkeit. Wie Sie es nannten. Das Mädchen. Das machten sie aus ihm. Ein Spielzeug. Für alle. In deren sämtliche Körperöffnungen. Sie etwas hineinschoben. Fleisch. Gummi. Flaschen! Wer war dabei? Wer hat mitgemacht? Wer waren die anderen? Warum mussten sie sie töten? Warum? Wozu? Warum haben sie sie umgebracht? Warum musste sie sterben? Warum? Warum?«
Hanna rannte über die Straße und auf der anderen Straßenseite weiter, ihre Fleischmassen wabbelten in der Trauerkleidung.
Ubiratan konnte nicht mehr. Keuchend und schwitzend lehnte er sich an den Friedhofszaun, schwindlig vor Erschöpfung und Wut.
Wütend stürmte Geraldo Bastos in das rundum verglaste Büro, in dem Ubiratan stand und auf ihn wartete. Der Alte streckte ihm grüßend die Hand hin, doch Bastos ignorierte sie. Er hatte noch das Klemmbrett dabei, auf dem er sich Bemerkungen über die Leistung seiner neuen belgischen Webstühle notiert hatte, als ihm überraschend dieser aufdringliche Besucher angekündigt worden war.
Ungerührt zog Ubiratan die Hand zurück.
»Darf ich mich setzen?«
Der Unternehmer wies barsch auf einen Stuhl vor seinem Arbeitstisch.
»Ich war den ganzen Morgen unterwegs«, sagte Ubiratan, ohne Platz zu nehmen. »Zuerst auf dem Friedhof, bei der Beerdigung des Witwers von Dona Anita, dann bin ich mit Madame Wizoreck spazieren gegangen, dieser polnischen Hotelbesitzerin. Die kennen Sie doch, nicht wahr?«
Er erhielt keine Antwort. Ubiratan wartete eine Zeitlang vergeblich. Dann setzte er sich.
»Auf dem Weg zu Ihnen habe ich außerdem noch beim Bischof vorbeigeschaut. Leider habe ich nicht mit ihm sprechen können. Ich wurde von seinem Sekretär und Chauffeur empfangen. Ein junger, sehr gut aussehender Mann. Kennen Sie ihn?«
Geraldo Bastos schloss die Tür. Das gleichmäßige Klappern der Webstühle verstummte. Das schalldichte Büro, das vor weniger als zwei Jahren im Zwischengeschoss eingebaut worden war, war nun ein stiller gläserner Käfig, der wie ein Balkon in die riesige Fabrikhalle von Tecidos União & Progresso hineinragte.
»Der Bischof scheint einen vollen Terminkalender zu haben. Er hatte weder heute noch morgen einen Termin für mich frei und nächste Woche auch nicht. Nicht einmal nächsten Monat. So zumindest sagte mir dieser Knabe, der … Wie heißt noch mal der junge Freund des Bischofs dieser Stadt?«
Der Fabrikdirektor betrachtete ihn wortlos.
Ubiratan griff langsam in die Tasche seines Jacketts, zog eine Streichholzschachtel hervor, holte eine zerdrückte Zigarette heraus, nahm sie zwischen seine Finger. Er wartete. Bastos rührte sich nicht.
»Haben Sie Feuer?«
»Ich rauche nicht.«
Ubiratan zeigte auf die Zigarette: »Stört es Sie, wenn ich rauche?«
Bastos legte das Klemmbrett auf den Tisch und steckte die Hände in die Taschen seines gestärkten Arbeitskittels. Ubiratan zündete seine Zigarette an.
Ohne ein Wort ging Bastos zu dem Stehventilator, richtete ihn auf Ubiratan und schaltete ihn ein. Dann ging er zum anderen Ende des Raums und tat dort dasselbe mit einem zweiten, identischen Ventilator.
Der lärmende Luftzug traf den Raucher, der den Jackettkragen hochschlug, um seinen Nacken zu schützen. Er kam sich ein wenig lächerlich vor.
Geraldo Bastos kehrte an den Tisch zurück, nahm das Klemmbrett und schob es sich unter den Arm.
»Sie wissen, dass ich ein vielbeschäftigter Mann bin, der keine Zeit zu vergeuden hat.«
»Zweifellos. Ich dachte nur, ich sollte Ihnen einen Besuch abstatten, weil …«
»Ich muss die Leistung der soeben importierten Maschinen überwachen. Es sind sehr teure Webstühle, in Dollar bezahlt. Diese verantwortungsvolle Aufgabe kann ich nicht irgendjemandem übertragen. Und ich will es auch nicht. Deshalb …«
»Da ich nicht mit dem Bischof reden konnte, dachte ich …«
»Womit Sie Ihren Tag verbringen, interessiert mich nicht im Geringsten. Wie Dom Tadeu sein Privatleben gestaltet, geht mich nichts an. Ich habe meine Arbeit stehen und liegen lassen, weil mir gesagt wurde, der Anwalt von Dona Anitas Familie wolle …« Er verbesserte sich: »… müsse mich sprechen. Es gehe um irgendwelche Fotos.«
»Genau.«
»Sie sind nicht der Anwalt von Dona Anitas Familie. Sie sind ein pensionierter Koch, der an einer Schule in Recife gearbeitet hat, und ein polizeibekannter kommunistischer Unruhestifter.«
»Ich will über Fotografien sprechen, ganz richtig. Eine davon habe ich beim Bischof hinterlassen. Einen Kontaktabzug mit mehreren
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