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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Fraktionsvorsitzender, Kommissionsleiter, Industriesekretär und schließlich, wer weiß, Gouverneur dieses Bundesstaats. Oder Senator wie sein Vater und Großvater. Doutor Marques Torres’ Möglichkeiten sind unbegrenzt. Unter der passenden Anleitung kann unser Bürgermeister dem Land noch große Dienste erweisen.«
    »Und Sie werden die Fotos benutzen, um dem Bürgermeister klarzumachen, dass Sie ihn in der Hand haben.«
    »Nun ziehen Sie mal keine voreiligen Schlüsse. Ich werde gar nichts benutzen. Das wird gar nicht nötig sein. Im neuen Brasilien sind die neue Industrie und die neue Politik sowieso immer enger miteinander verflochten. Wir werden fruchtbare, dauerhafte Verbindungen knüpfen. Und ich werde zu verhindern wissen, dass uns dabei ein paar Dutzend oder hundert schlechte Fotos in die Quere kommen.«
    »Aber gestochen scharfe Fotos.«
    »Ja, in der Tat: gestochen scharf. Es wäre ein Jammer, sie zu vernichten. Ein Gutteil der Geschichte der letzten acht Jahre dieser Stadt ist auf ihnen festgehalten. Wenn Sie es noch einmal wagen, mich an meinem Arbeitsplatz zu stören, lasse ich Sie mit Fußtritten davonjagen.«
    Ubiratan machte sich wieder auf den Weg zur Tür, doch nach nur zwei Schritten drehte er sich um und sah dem Fabrikdirektor direkt ins Gesicht. Bastos lächelte noch immer fein.
    Im gläsernen Käfig hinter ihnen flatterten Papiere, von den Ventilatoren aufgewirbelt, wild durcheinander.
    »Kennen Sie das Foto, auf dem Josef Stalin seine Tochter auf dem Schoß hat?«
    »Nein.«
    »Stalin hält das Mädchen fest, sein Gesicht ist ganz dicht an ihrem, als wollte er sie küssen. Swetlana Allilujewa lächelt und hat ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Er lächelt ebenfalls. Ein glückliches Bild von einem liebevollen Vater in einem Moment häuslicher Geborgenheit. Aufgenommen genau zu der Zeit, in der Stalin eine der obszönsten Massenvernichtungskampagnen in der Geschichte der Menschheit leitete.«
    Dann wandte er sich wieder um und ging.
    »Endlich kriege ich mal zehn Punkte in Naturkunde«, freute sich Paulo an diesem Mittwoch. Der Unterricht war aus, und sie waren auf dem Weg zu der Mauer, an der sie ihre Räder abgestellt hatten.
    »Nein, die kriegst du nicht«, warnte Eduardo.
    »Wieso denn nicht? Du hast doch alle Fragen für mich beantwortet!«
    »Ein paar Fragen habe ich falsch beantwortet.«
    »Falsch?«
    »Absichtlich.«
    »Aber warum denn? Ich dachte, du bist mein Freund!«
    »Genau deshalb.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Wer mogelt, darf keine zehn Punkte machen, Paulo. Das fällt nur auf. Um überzeugend zu mogeln, muss man ein paar Fehler machen.«
    Noch bevor Paulo etwas erwidern konnte, bemerkte er zu seiner Überraschung den weißhaarigen Mann, der auf sie wartete.
    »Wir müssen sofort zu einer Ortsbesichtigung«, sagte Ubiratan und nahm Paulos Fahrrad. »Kommt mit!«
    »Wohin? Was besichtigen?«, wollte Eduardo wissen.
    »Wer von euch kann mich auf der Lenkstange mitnehmen?«
    »Wohin mitnehmen, Ubiratan?«
    »Ist das da drüben das Fahrrad, das bei dem Unfall was abbekommen hat?«
    »Nein. Das war Paulos.«
    »Kann man noch damit fahren?«
    »Ich bin damit von zu Hause gekommen, aber es ist ziemlich zerbeult. Ich weiß nicht, ob es zwei Leute aushält.«
    »Wo wollen Sie denn hin? Und warum?«
    Ubiratan sprach weiter mit Paulo.
    »Glaubst du, dass es eine längere Strecke durchhält?«
    »Das kommt drauf an. Wie lang?«
    »Wohin? Wohin?«
    Der alte Mann wandte sich Eduardo zu.
    »Dein Rad ist noch ganz. Also nimmst du mich mit. Los geht’s!«
    »Aber wohin? Jetzt ist Mittagessenszeit, und meine Mutter …«
    »Wenn ich’s recht überlege, ist es vielleicht besser, ich fahre und du sitzt auf der Lenkstange.«
    »Können Sie denn überhaupt Rad fahren?«
    »Steig auf!«, befahl Ubiratan, schwang sich mit einer Geschicklichkeit und Vertrautheit, die die Jungen überraschte, selbst aufs Rad und stützte sich mit dem linken Fuß ab. Aber Eduardo hatte noch einen anderen Einwand.
    »Meine Mutter wird sich Sorgen machen, wenn ich …«
    »Na los, steig schon auf!«
    »Aber …«
    »Komm, Eduardo! Wir verlieren Zeit!«
    »Sie haben was rausgefunden!«, rief Paulo erfreut.
    »Noch nicht. Ich bin nicht sicher. Es ist nur so eine Vorahnung. Komm schon, Eduardo!«
    Einen Augenblick lang zögerte Eduardo noch, dann klemmte er die Schultasche auf den Gepäckträger und nahm auf der Lenkstange Platz.
    »Wie erkläre ich das bloß meiner Mutter?«, murrte er vor sich hin.
    Das Wasser

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