Der letzte Tag der Unschuld
Fältchen zu erkennen, in die der Lippenstift hineingeflossen war.
»Kein Freund hat sich blicken lassen, nicht ein Angehöriger. Nicht einmal die Armen, die er immer so großzügig bedacht hat, wie man mir berichtete, haben ihm die letzte Ehre erwiesen. Niemand ist zur Beerdigung des Zahnarztes gekommen. Finden Sie das nicht traurig?«
Auch diesmal erhielt er keine Antwort. Ubiratan roch den Duft nach Reispuder, süßem Parfüm und Mottenkugeln, der von der Frau und ihren Kleidern aufstieg.
»Das heißt, niemand außer dem Priester, einem Polizisten und Ihnen.«
Schweigend ging Hanna weiter. Die breiten Absätze ihrer altmodischen Schuhe klapperten rhythmisch auf dem Pflaster.
»Merkwürdig. Sehr merkwürdig.«
Sie steckte die Zigarettenspitze in den Mund, nahm einen weiteren Zug, den Blick starr geradeaus gerichtet.
»Ich meine, dass niemand zur Beerdigung gekommen ist, kann ich sogar verstehen. Schließlich war der Zahnarzt ja keineswegs der mitleidige, mildtätige Bürger, als der er sich ausgab. In Wirklichkeit war er ein Widerling. Ein Mörder. Hat seine eigene Frau abgeschlachtet. So ein Mann hat es nicht verdient, dass alte Freunde zu seiner Beerdigung kommen. Dass die Kameraden aus früheren Zeiten fehlen, ist vollkommen verständlich, finden Sie nicht?«
Sie stieß stumm Rauch aus.
»Seltsam nur, dass der Priester da war …«
Ein neuer Zug, diesmal kürzer.
»Mir ist aufgefallen, dass Sie nicht gebetet haben, also sind Sie wohl nicht katholisch. Ich bin es auch nicht. Ich weiß nicht, ob Sie einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Ich gehöre keiner an, ich bin Atheist. Aber ich habe an einer kirchlichen Schule gearbeitet und kenne einige Tabus, oder besser gesagt, einige Vorschriften der katholischen Kirche. So weiß ich zum Beispiel, dass sie kein christliches Begräbnis für Selbstmörder duldet.«
Hanna blieb stehen und ließ den Rauch aus ihren Nasenlöchern entweichen. Mit einer theatralischen Geste riss sie die Zigarette aus dem Mundstück, warf sie zu Boden und zertrat sie mit der Schuhspitze.
»Aber der Priester hat am Grab gebetet und den Sarg gesegnet. Das hat er sicher nicht aus eigenem Antrieb getan. Ich kann mir nur vorstellen, dass der Bischof eine Sondergenehmigung erteilt hat. Anders kann ich mir das nicht erklären. Oder was denken Sie, Madame Wizoreck?«
Sie öffnete ihre Tasche, warf das Mundstück hinein und setzte sich wieder in Bewegung. Ubiratan folgte ihr.
»Eine letzte freundschaftliche Geste von Dom Tadeus für seinen alten Seminarkollegen. Ich nehme an, Sie wissen, dass die beiden zusammen im Seminar waren.«
Immer noch ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ließ sie den Schleier über ihr Gesicht herab.
»Jugendfreundschaften sind ja bekanntlich die dauerhaftesten. Unerschütterliche Zuneigung, lebenslange Verbindungen, so heißt es doch, nicht wahr?«
Die Stille zwischen jedem Anlauf Ubiratans wurde nur durch das Klacken der Absätze der schwarz gekleideten Frau auf dem Zement durchbrochen. Er zog eine Streichholzschachtel mit einer seiner zerdrückten Zigaretten aus der Vordertasche seines Jacketts.
»Haben Sie Feuer?«
Wieder antwortete Hanna Wizoreck nicht und hielt auch nicht an. Ubiratan hielt die Zigarette noch eine Zeitlang in der Hand, dann steckte er sie dahin zurück, wo er sie hervorgezogen hatte.
»Der Zahnarzt war ein sehr frommer Mann. Sein Haus – ich weiß nicht, ob Sie es kennen – ist voller Figuren von Heiligen, die er offenbar sehr verehrte. Ich habe gehört, er sei jeden Morgen zur Messe gegangen. Sieben Mal pro Woche. Jeden Tag hat er gebeichtet und die heilige Kommunion empfangen. Es fällt mir schwer zu glauben, dass ein so gläubiger Mann eines der wichtigsten katholischen Prinzipien missachtet und Selbstmord begeht. Dass er sein Verbrechen bereut, das ja. Auch, dass ihn sein Gewissen plagt. Aber dass er sich umbringt … sich mit einer Krawatte in seiner Gefängniszelle erhängt … Vielleicht glaubt der Bischof auch nicht, dass er Selbstmord begangen hat.«
Hanna blieb stehen.
»Haben Sie die Absicht, mir noch länger hinterherzulaufen?«, fragte sie, wobei sie das R in der Mitte jedes Wortes verdoppelte und am Ende in die Länge zog. In Ubiratans ungeübten Ohren klang es eher nach französischem als nach polnischem Akzent.
»Ich möchte nur ein wenig plaudern«, erwiderte er fast galant.
»Warum verschwinden Sie nicht und plaudern mit den anderen alten Männern im Altersheim?«, schlug sie spöttisch vor und
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