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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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setzte sich wieder in Bewegung.
    »Wenn Sie wissen, dass ich im Altersheim São Simão wohne«, sagte er, während er wieder zu ihr aufschloss, »dann wissen Sie auch, dass die Alten, die dort festsitzen, an Gesprächen über Verbrechen oder Gewissenskonflikte nicht interessiert sind.«
    Ohne innezuhalten, öffnete Hanna ihre Tasche, nahm Zigarettendose und Mundstück heraus und wiederholte den Vorgang haargenau wie zuvor, wenn auch etwas schneller. Um die Zigarette anzuzünden, musste sie anhalten. Auch Ubiratan blieb stehen.
    »Es ist schwer nachzuvollziehen, warum ein so tiefgläubiger, so frommer Mann wie der Zahnarzt nicht im Seminar geblieben ist, finden Sie nicht?«
    Sobald sie ihre Zigarette angezündet hatte, ging sie weiter. Ubiratan folgte ihr.
    »Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, dass ein so frommer Mann keine kirchliche Laufbahn eingeschlagen hat? Oder denken Sie, dass vielleicht im Seminar etwas vorgefallen ist, irgendetwas Unwiderrufliches, das ihn dazu bewogen hat, seine Pläne zu ändern? Was hat ihn gegen seinen Willen und seine Berufung von seinem Weg abgebracht? War es etwas, was es ihm unmöglich gemacht hat, im Seminar zu bleiben? Oder war es vielleicht gar nicht seine Entscheidung, das Seminar zu verlassen? Möglicherweise ist dort etwas vorgefallen, was das Seminar dazu gebracht hat, ihm nahezulegen, doch nicht Priester zu werden? Was mag wohl einen offenbar so mystisch veranlagten jungen Mann dazu bewogen haben, auf die Kirchenlaufbahn zu verzichten? Mit Sicherheit nicht die Ablehnung des Zölibats. Selbst außerhalb des Seminars hat man den Zahnarzt nie in weiblicher Begleitung gesehen. Er hat nie die Mädchen in dem von Ihnen geführten Hotel besucht. Ein Zölibatär. Bis kurz vor seinem fünfzigsten Lebensjahr. Als er überraschend heiratete. Eine Fünfzehnjährige. Die seine Enkelin hätte sein können. Eine Waise.«
    »Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen«, sagte Hanna, ohne anzuhalten oder ihn anzusehen, »dass diese Heirat ein Akt der Barmherzigkeit gewesen sein könnte?«
    »Ja, das ist mir schon in den Sinn gekommen«, gab Ubiratan zu.
    »Sie leben schließlich im Altersheim auch von Barmherzigkeit.«
    »Aber nachdem ich ein Foto gesehen hatte, habe ich meine Meinung geändert.«
    Wieder nahm sie einen kurzen Zug und stieß gleich darauf den Rauch aus.
    »Anscheinend war der Zahnarzt Hobbyfotograf«, bemerkte Ubiratan beiläufig.
    Hanna warf ihm einen raschen Seitenblick zu, ohne den Kopf zu wenden.
    »Er hatte sogar ein Fotolabor im Haus. Er entwickelte die Fotos, die er machte, gerne selber.«
    Er merkte, dass Hanna schneller ausschritt, und tat das Gleiche.
    »Fotos von Gästen.«
    »Ich will nichts davon wissen.«
    »Gäste, von denen er es gerne sah, wenn Anita sie empfing.«
    »Das interessiert mich nicht.«
    »Wussten Sie, dass die beiden getrennt schliefen? Jeder hatte sein eigenes Zimmer. Eine sehr ungewöhnliche Ehe.«
    Sie gingen immer schneller.
    »Das Ehepaar empfing spät in der Nacht Gäste. Männliche Gäste. Er sah gerne zu.«
    Hanna zog die Zigarette aus dem Mundstück und warf sie auf die Straße.
    »Sah gerne zu und machte gerne Fotos.«
    Das Mundstück landete in der Tasche. Hannas Schritte wurden länger. Ubiratan fiel zurück.
    »Der Zahnarzt liebte es, seinen Gästen bei dem zuzusehen, was sie mit seiner eigenen Frau trieben, und es zu fotografieren, alles zu beobachten und zu fotografieren, was er seine Frau zwang mit ihnen zu tun, mit seinen Freunden, die zu Besuch kamen, zu fotografieren, was sie auf ihr und in ihr trieben, weil es ihn erregte, sich vorzustellen, dass sie es mit ihm täten.«
    Inzwischen rannte sie fast. Beide keuchten.
    »Ich besitze eines dieser Fotos, Madame Wizoreck.«
    »Ich will nichts davon wissen!«
    »Was auf dem Foto zu sehen ist, ist abstoßend.«
    »Ich will es nicht wissen!«
    »Warum? Haben Sie Angst?«
    »Ich habe nichts damit zu tun! Nicht das Geringste!«
    »Angst wovor? Angst vor wem?«
    »Sie sind ein alter Spinner!«, rief sie und rannte los.
    Ubiratan hatte nicht vor, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen, und so setzte er sich ebenfalls in Trab. Er war so außer Atem, dass er nur abgehackt reden konnte.
    »Sie haben Angst. Weil diese Treffen zuletzt in Ihrem Hotel stattfanden. So war es doch, oder? Mit mehreren Männern. Mit vielen Männern. Gemeinsam. Nicht wahr? Und dann mit Gegenständen. Der Zahnarzt war dabei. Und fotografierte. Das Mädchen, das er aus dem Waisenhaus geholt hatte. In einem angeblichen

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