Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Sekte in der Sonora-Wüste anbrachen. Im Frühling und Sommer des Jahres 1975. Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren, aber die Kinder, die diese Zeit überlebt haben, waren zum Zeitpunkt ihrer Rettung sicherlich noch zu jung, um sich an irgendwelche Einzelheiten zu erinnern. Nach dem Selbstmord von Bridgette Clover vor Kurzem sind Sie die Einzige, die sich
noch an den Tempel der Letzten Tage und seine letzte Ausprägung aus eigener Anschauung erinnern kann.«
Martha nickte und hob den Kopf mit einer Geste, die wie trotziger Stolz wirkte. »Das ist richtig.« Kyle fragte sich, ob es abgesehen von den Zigaretten und dem Whisky noch irgendetwas in ihrem Leben gab, das ihr ein bisschen Freude machte.
»Vielleicht können Sie uns ja ein wenig darüber erzählen, wie Sie ein Mitglied dieser Sekte wurden?«
Sie erzählte ihnen viel mehr als nur ein wenig. Genau wie bei Bruder Gabriel und Schwester Isis hatte Kyle, als er ihr zuhörte, den Eindruck, dass sie nicht oft unter Leute kam. Sie trug außerdem ebenfalls diese anstrengende exzentrische Art zur Schau, die man sich aneignet, wenn man lange Zeit isoliert lebt. Er fragte sich, ob sie vielleicht alle schon vor ihrer Mitgliedschaft in der Sekte psychisch gestört waren, oder ob diese Mitgliedschaft sie erst zu verstörten Wesen gemacht hatte, die nun nicht mehr dazu in der Lage waren, ein normales Leben zu führen, auch wenn sie es versucht hatten. Susan und Gabriel waren in Gegenwart von ihm und Dan immerhin einigermaßen gesellig gewesen, hatten aber beide Anzeichen eines grundlegenden Defekts gehabt, der es ihnen unmöglich machte, mit anderen Menschen längere Zeit normal umzugehen oder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. Sie alle waren Außenseiter und Randexistenzen. Und sie vermittelten ihm das Gefühl, dass es besser war, sich nicht zu lange mit ihnen zu befassen, als wäre ihre Asozialität ansteckend. Nur Max schien nach der Zeit mit Katherine aufgeblüht zu sein, aber andererseits war er auch nicht gerade normal.
Marthas Schilderung der frühen Tage musste knapp geschnitten und als Voice-over benutzt werden. Zunächst klang alles wie ein typisches Klischee: Ein Mädchen aus einer armen Familie mit einem gewalttätigen, meist abwesenden Vater und einer alkoholkranken Mutter. Ein Mädchen, das die Highschool abbrach
und nach San Francisco ging. Dann folgten die Experimente mit Drogen und dem Leben in einer Kommune, inmitten der Aufbruchstimmung der Jugendrevolte der Sechzigerjahre. Dann landete sie zusammen mit ein paar mit Drogen handelnden Motorradrockern in Los Angeles und traf dort mit Mitgliedern des Tempels der Letzten Tage zusammen, die in ihren Kutten den Santa Monica Boulevard entlangschlenderten und mit leuchtenden Augen von dem Gott in dir, der Erlösung und dem Paradies schwärmten.
Das war die neue Familie, nach der sie sich gesehnt hatte. Eine Begegnung mit tief greifender Bedeutung. Bald teilte sie mit ihnen den gemeinsamen Glauben an den Weltuntergang, dem nur sie entrinnen konnten, weil sie die Auserwählten waren. Die therapeutische Wirkung von Selbsterforschung und Selbstfindung nach einer ärmlichen Kindheit, die ihr nichts zu bieten hatte, gepaart mit der eindrucksvollen Erfahrung von Bewusstseinserweiterung durch halluzinogene Drogen, die sie wie Smarties schluckte, veränderte ihre Persönlichkeit. Das alles bereitete sie auf die abenteuerliche Zeit in ihrem Wüstenrefugium vor … und da war es dann zu spät, um auszusteigen, weil es nichts mehr gab, wohin man zurückkehren konnte. Nicht einmal einen Planeten, den sie noch als solchen erkannt hätte, weil ihr Blick im Jahr 1975 getrübt und ihre Wahrnehmung völlig verzerrt war. Das Schlimmste, was Martha danach passieren konnte, war, dass sie eine Berühmtheit wurde.
»Martha, viele von den Menschen, die sich dem Tempel der Letzten Tage in den Jahren 1974 bis 1975 angeschlossen haben, bekamen Schwester Katherine nie zu Gesicht und haben schon gar nicht mit ihr gesprochen. Aber in der Anfangszeit der Sekte in Los Angeles 1972 und im ersten Jahr in der Kupfermine, 1973, tauchte sie dort gelegentlich auf, und Sie sind mit ihr zusammengetroffen.«
»Es wurde mir erlaubt.«
»Ich habe das Interview gelesen, das Sie Irvine Levine gaben, aber ich frage mich, ob Sie inzwischen, nach einigem Nachdenken, nicht zu einer neuen Bewertung ihrer Person gekommen sind.«
Martha deutete mit der Zigarette auf Kyle. »Ich will Ihnen mal was sagen. Viele Leute halten das Buch
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