Der letzte Tag: Roman (German Edition)
geschrieben. Es trug den Titel Tränen einer Mutter – Schreie eines Kindes und wurde später als weitgehend fiktiv gebrandmarkt. Kyle hatte eine alte Taschenbuchausgabe über eBay ausfindig gemacht. Da er Levines Buch schon gelesen hatte, blätterte er das völlig übertrieben verrätselte, mit sexuellen Anspielungen bezüglich der Praktiken des Kults vollgepackte Machwerk nur durch. Über den blutigen Höhepunkt, in dem das paradiesische Dasein von Schwester Katherines Anhängern gipfelte, war nichts darin zu lesen, da Martha Lake im Juli 1975 ja nicht mehr dort gewesen war. Außerdem gab es nur wenige Informationen über die Hierarchie oder die Rituale in der Gruppe, da die Hauptfigur des Buchs offenbar gar nicht befragt worden war. Ein Fernsehfilm, der auf dem Buch basierte, wurde unter dem Titel Bloody Martha gedreht, und im Abspann wurde sie als Produzentin genannt. Es war nichts weiter als der Versuch, möglichst gut abzusahnen. Der Film war später nicht mal auf DVD erschienen, das hatte Kyle noch überprüft.
Aber die zwangsweisen Verkupplungen, die Drogenexzesse im Garten Eden, der unbekannte Kindsvater, ihre intime Nähe zu den verrückten satanischen Mördern in der verlassenen Kupfermine, das alles zog sie wie einen Kometenschweif hinter sich her. All das, was man ihr zuschrieb, haftete ihr an, auch wenn es auf den Pressefotos nicht zu sehen war. Ungefähr zwei Jahre lang tanzte sie mit dem Teufel und profitierte von ihrer düsteren Vergangenheit im Höllenpfuhl der Sonora-Wüste. Ihre mystische, rätselhafte Schönheit dürfte Schwester Katherines Leichnam im Grab zum Rotieren gebracht haben. Katherine wurde als aufgedunsene Vogelscheuche, korpulente Blutgräfin Báthory und manipulierende Psychopathin dargestellt. Martha Lake hingegen, wie auch die kürzlich verstorbene schwarzhaarige Schönheit Bridgette Clover, verließen die berüchtigte Mine als Sexbomben, die man sich gern als Playmates des Monats an die Wand gehängt hätte. Filmkritiker beschrieben sie begeistert als Vorläuferinnen der erotischen Scream-Queens in den Horror-Schockern späterer Jahre. Sie verfügten über die nötige Schönheit und waren mit dem absolut Bösen in Berührung gekommen, wenn nicht noch mehr, und das genügte, um Ikonen aus ihnen zu machen.
Bis zum Jahr 1981, als die glutäugige und wilde Martha Lake erleben musste, wie ihre Berühmtheit verblasste. Mehr und mehr wurde sie auf die hinteren Seiten der Zeitschriften verbannt, wo man über sie nur noch geschmacklose Enthüllungsgeschichten über Drogensucht, Promiskuität und Kreditkartenbetrug verbreitete und die traurige Geschichte ihres Kindes auswalzte, das in die Obhut des Staates gegeben werden musste. Das Geld war weg, und ihre Schönheit verblühte. Daraufhin verschwand sie für die nächsten dreißig Jahre. Bis der beharrlich suchende Maximilian
Solomon sie drei Monate vor dem Beginn der Dreharbeiten endlich ausfindig gemacht hatte.
Und nun würde er also Martha Lake kennenlernen, in wenigen Stunden war es so weit. »Where have you been all my life, Martha?«
Dan drehte sich auf seinem Sitz um und stöhnte.
Seattle
22. Juni 2011, 10 Uhr
Die Frau, die Kyle und Dan die Tür öffnete, war kaum noch als die Martha Lake zu identifizieren, die sie 1975 oder auch noch 1981 gewesen war.
Sie war völlig abgemagert, trug eine formlose Strickjacke und eine Jogginghose. Der Türrahmen, in dem sie stand, sah aus, als hätte er eine Art Hautausschlag. Marthas Hals war sehnig und ihr Gesicht völlig eingefallen, es wirkte, als hätte sie einfach zu viel Leid, Enttäuschung, Trauer und Hoffnungslosigkeit ertragen, jedenfalls mehr, als eine Frau von achtundfünfzig Jahren aushalten kann. Ihre hohen Wangenknochen erinnerten noch immer an ihre einstigen Gesichtszüge, aber sie waren von tiefen Falten durchzogen, und die Haut hing schlaff herab. Ihre Mundwinkel zeigten ebenfalls nach unten, sie wirkte verhärmt, und man sah deutlich, dass sie seit jener Zeit in den Siebzigern, als sie von einer Party zur nächsten gereicht worden war, nicht mehr viel gelacht hatte. Die üppigen sinnlichen Lippen waren furchig, und die tiefen Kerben am Rand reichten bis zum Kinn. Das einst stolze, rätselhafte Lächeln der jungen Frau auf den Pressebildern war eingetrocknet. Ihr weißes Haar mit den gräulichen Strähnen hatte sie straff zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Aber ihre Augen waren noch die von Martha Lake: hübsch, intelligent,
wachsam. Zeitlos. Kyle hatte sie schon so
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