Der letzte Tag: Roman (German Edition)
schwarz.
Kyle wusste aus Max’ Notizen, dass Martha drei Kinder von drei verschiedenen Männern hatte. Der einzige Vater, der nicht bekannt war, war der ihres ältesten Sohns, der 1973 in der Kupfermine gezeugt worden war. Die anderen Väter und Kinder schienen ebenfalls vor langer Zeit weggegangen zu sein. Er fragte sich, ob wohl irgendwelche gerahmten Bilder von ihnen in einem der düsteren Zimmer des Hauses auf einem Kaminsims standen.
»Das ist aber ein großes Haus, wenn man allein lebt.«
Martha schaute Kyle hintersinnig an. »Es dauert länger, bis es voll ist.«
Er war sich nicht sicher, was sie damit meinte. Dan bediente den Belichtungsmesser hinter Marthas Kopf. Und er schien sich gar nicht wohl dabei zu fühlen. Nur noch ein Drehtermin, Alter. Der Letzte. Der letzte Tag der Letzten Tage.
Martha zog heftig an ihrer Zigarette. »Dies ist die dritte Wohnung, die ich in diesem Jahr bezogen habe. Ich muss immer in Bewegung bleiben. Damit sie mich nicht kriegen.«
»Die Presse?«
Martha lächelte, zeigte dabei ihre bräunlich verfärbten Zähne und drückte die Kippe aus. Sofort nahm sie eine neue aus dem Päckchen auf dem Tisch und zündete sie an. »Sie wissen überhaupt
nichts, stimmt’s?« Sie schüttelte den Kopf und füllte ihre Lungen bis zum Bersten mit dem Rauch. Als sie ihn einatmete, klang es, als würde er durch eine Reihe von Löchern in ihrem Brustkorb dringen.
Kyle lächelte und hoffte, damit den Hang zum Spott zu bannen, den er bemerkt zu haben glaubte. »Ich hoffe doch, dass Sie das ändern werden«, sagte er. »Wir haben mit den Polizisten gesprochen, die den Fall bearbeitet haben, und auch mit dem Sohn des Farmers in der Nähe der Mine …«
»Mr. Aguilar? Ist er tot?«
»Äh, ja.«
Hinter dem Schleier aus Zigarettenrauch kniff Martha die Augen zusammen. »Wie ist er gestorben?«
»Hm, das weiß ich nicht. Sein Sohn hat es uns nicht erzählt.«
»Gott sei seiner Seele gnädig. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, würde ich jetzt nicht hier sitzen.«
Kyle nickte. »Sein Sohn hat nur Gutes über ihn erzählt.«
»Damals hat sich die Polizei nicht so sehr um Gruppen wie unsere gekümmert, es sei denn, man hat ihnen gute Gründe dafür geliefert. Heutzutage ist das anders. Aber da draußen in der Mine hat uns niemand geholfen bis zum Ende, das wir die ganze Zeit schon kommen sahen. Mr. Aguilar war eine Ausnahme. Er hat auch versucht, Prissie zu helfen.« Martha hielt inne und schüttelte den Kopf.
»Schwester Priscilla?«
Martha zog die Nase hoch. »Was wissen Sie über Prissie?«
»Nicht viel. Nur dass Mr. Aguilar sie beschützt hat, als sie weggelaufen ist. Aber dann ist sie freiwillig wieder zum Tempel zurückgegangen .«
Martha nickte. »Das war dumm von ihr. Aber ich kann es ihr nicht übel nehmen.«
Kyle warf Dan einen Blick zu, um zu sehen, wie weit er mit seinen Vorbereitungen war. »Warum?«
»Sie ist zurück, weil ihr kleiner Junge noch dort war. Sie hatte es nicht weiter als bis zur Ranch geschafft. Dort hielt sie es nicht länger aus und kehrte in die Mine zurück. Es wäre besser gewesen, sie wäre geflüchtet und hätte die Polizei alarmiert.« Sie klatschte unvermittelt in die Hände. Kyle und Dan zuckten erschrocken zusammen. »Ha! Hätte, könnte. So ging das mein ganzes Leben lang!« Sie warf den Kopf zurück und lachte laut gackernd, bis ein heftiger Hustenanfall ihren ganzen Körper schüttelte. Dan riss die Augen auf. Kyle holte ein Glas Wasser.
Martha wischte sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke die Tränen aus den Augenwinkeln und atmete heftig pfeifend ein und aus. Sie nickte Kyle dankbar zu, als er ihr das Wasserglas gab und ihr auf den Rücken klopfte. Als sie wieder einigermaßen normal atmen konnte, sagte Dan hinter der Kamera, die er auf das Stativ montiert hatte: »Ich bin bereit.«
Sie würden das ganz trocken aufnehmen, denn Kyle wollte, dass genau das zu sehen war, was sie hier vor sich hatten: Eine verängstigte Frau mit tiefen Sorgenfalten, die rauchend in ihrer tristen Küche saß und über ihre Gefangenschaft und die Ermordung ihrer Freunde sprach. Über eine Zeit in ihrem Leben, die sie nie richtig hinter sich gelassen hatte. Dies war ihre letzte Chance, der Welt etwas darüber mitzuteilen. Es war eine Aussage, vielleicht sogar eine Art Testament. Diesen Eindruck jedenfalls vermittelte sie.
»Martha, Sie sind die einzige Überlebende, die als Erwachsene beim Tempel der Letzten Tage war, als … nun ja, als die letzten Tage der
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