Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Das hat sie nicht ertragen. Sie empfand es wie eine persönliche Zurücksetzung. 1973 war es ein ständiges Kommen und Gehen. Ein Jahr später gingen sehr viele. Das war der Zeitpunkt, als sie und die Sieben immer härter wurden. Als die Paranoia neue Ausmaße annahm. Und wir verschwendeten unsere Zeit damit, dieses bescheuerte Buch auf den Straßen von Yuma zu verkaufen. Es war wie der Moment, wenn die Party vorbei ist und niemand der Letzte sein will, der den ganzen Dreck wegräumen muss. Aber sie war ja schlau. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie uns schon fest am Haken.«
»Viele Leute haben es nicht verstanden, warum Sie nicht fortgegangen
sind, als Sie noch einen freien Willen hatten. Vor allem, weil die Situation dort doch so bedrückend war.«
Martha schnaubte abfällig. »Wenn man alles für eine Sache aufgegeben hat, dann tut man alles, damit diese Sache auch funktioniert, weil es keine andere Möglichkeit gibt und auch keinen anderen Ort, an den man gehen könnte. Wir hatten alle Angst vor ihr, aber wir hatten auch Angst, dass wir sie verlieren könnten. Wir hatten eine Scheißangst. Immerzu.«
»Haben Sie damals Dinge getan, die Sie heute bereuen?«
Martha nickte. »Jede Menge.«
»Möchten Sie uns was darüber erzählen?«
Martha lächelte bitter. »Ich kann Ihnen von Dingen berichten, die niemand sonst bisher zugegeben hat.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen erzählen, wie wir uns gegenseitig beschuldigten. Und dass wir vorgaben, wir hätten geheime Botschaften bekommen. Auf telepathischem Weg. Ha! Wir denunzierten einander. So etwas konnte ständig passieren. Wir mussten uns damit abfinden. Und das haben wir alle getan. So haben wir uns gegenseitig Schmerzen zugefügt. Ich habe sogar Lügen über Prissie und Bridgette verbreitet, nur damit ich zusehen konnte, wie Belial sie auspeitschte. Sie haben sich dann gerächt und zugeschaut, wie ich geschlagen wurde.« Sie legte die Hände auf die Tischplatte und rückte ihren Stuhl mit einem so lauten Quietschen zurück, dass Dan hinter der Kamera zusammenzuckte. Sie stand auf, drehte sich um und zog ihre Strickjacke und das T-Shirt hoch, als wollte sie den Oberkörper entblößen. Aber sie zog ihre Kleider nur bis zu den Schulterblättern hinauf. »Wollen Sie das auch filmen?«
Kyle musste schlucken. Er nickte Dan zu.
»Das sind die Narben, die Bruder Belial mir zugefügt hat. Dieser Dreckskerl.«
Dan filmte das wirre Netz aus zahlreichen weißen Narben, das ihren Rücken überzog.
»Als er das gemacht hat, war ich gerade schwanger.«
Kyles Kopf war jetzt völlig leer. Ihm war schwindelig, und er fühlte sich schrecklich verletzbar. Und er hatte Angst, auch wenn er nicht wusste, wovor eigentlich. Auf einmal wurde sein Selbstvertrauen völlig erschüttert, weil ihm klar wurde, gegen welche Macht er hier angetreten war.
Martha ließ ihre Kleider wieder herabfallen. Setzte sich hin, machte die Flasche Bourbon auf und goss einen großen Schluck in einen Zahnputzbecher. Nahm sich eine weitere Zigarette aus dem Päckchen. »Wir alle waren beteiligt, wenn andere verprügelt wurden. Oder wenn jemand ausgeschlossen wurde, wegen irgendeiner Kleinigkeit. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Wir zwangen die Frauen, ihre Kinder dem Tempel zu überlassen. Auch ich wurde dazu gebracht. Niemand schritt ein, wenn jemand vergewaltigt wurde, zum Beispiel als Bruder Ariel und Bruder Adonis, die armen Kerle, von den Sieben vergewaltigt wurden, um ihnen eine Lektion in Sachen Stolz zu erteilen.«
Kyle verzog das Gesicht. Levine hatte über die Vergewaltigung von Männern in der Mine geschrieben. Es war eine beliebte Methode von Belial und Moloch gewesen, über andere Macht auszuüben, und ein Exempel wurde unter anderem an zwei jüngeren Männern statuiert, die 1975 noch Mitglieder der Sekte waren. Das waren Bruder Ariel und Bruder Adonis gewesen. Auf der Reise quer durch Amerika hatte Kyle außerdem noch Gelegenheit gehabt, das Buch Raven von Tim Reiterman zu lesen, eine ausführliche Darstellung des Lebens von Reverend Jim Jones und seinem People’s Temple. Jones hatte in Guayana ebenfalls seine männlichen Lieblingsschüler vergewaltigt und zwar jene, denen er am meisten vertraute und die ihm am innigsten ergeben waren. Er hatte sich immer wieder seinem Drang hingegeben, den heterosexuellen Männern in seiner Nähe Schmerz und das Gefühl von Erniedrigung zuzufügen. Um alle Männer herabzusetzen, die ihm Konkurrenz machen konnten. Laut Susan
White,
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