Der letzte Tag: Roman (German Edition)
dann unsere Würde genommen. Bis nur noch zwei Dinge übrig blieben, die sie uns nehmen konnte: unsere Kinder und unser Leben.« Martha hielt inne und dachte eine Weile nach. Ihre letzte Bemerkung erinnerte Kyle schmerzhaft an das, was er eigentlich von ihr wissen wollte.
»Denken Sie, dass Katherines Ideen irgendeinen Wert hatten?«
»Nicht die Bohne. All dieses Gefasel, unsere Seelen sollten befreit werden von Schuld und Unterdrückung, war totaler Schwachsinn. Oh, am Anfang ging es ziemlich wild zu. In L. A. war es recht lustig. Auch die Anfangszeit in der Wüste. Ich habe mich nie so frei gefühlt. Hatte nie so viele Freunde gehabt. Richtige Freunde.« Martha schüttelte den Kopf, nahm sich eine weitere Zigarette aus dem Päckchen, das auf dem Tisch lag, zündete sie an und atmete den Rauch tief ein. »Aber sie hatte ganz spezielle Bedürfnisse. Sie wartete einfach ab.«
»Bedürfnisse? Was für Bedürfnisse waren das denn?«
Martha starrte erneut schweigend auf den Tisch und nagte an ihrer Unterlippe. Als sie wieder aufschaute, war sie nicht mehr nur die abgebrühte Frau mit den lockeren Sprüchen. Jetzt war
auf ihrem Gesicht ein schmerzhafter Ausdruck zu erkennen, und ihre Stimme klang weicher und ruhiger. »Jeder Mensch hat bestimmte Bedürfnisse. Liebe. Sex. Anerkennung. Was auch immer. Das gilt für uns alle. Sie aber hatte andere Bedürfnisse. Ich glaube nicht, dass sie sich zügeln konnte. Sie war wie ein Haifisch. Sie wollte Blut im Wasser haben. Die ganze Zeit. Es war ihr eine Freude, andere zu verletzen. Sie liebte es, anderen Schmerzen zuzufügen, egal auf welche Art. Erniedrigung, Beschuldigung, Ausgrenzung, sie benutzte alles, um Menschen zu quälen. Oder um ihnen Angst zu machen. Aber nicht einmal das genügte ihr. Diese Psychospiele. Das waren nur Übungen, verstehen Sie? Vorbereitungen. Ich hab mal ein Buch über Psychopathen gelesen. Nach der Lektüre wurde mir klar, dass sie sich zu der Zeit, als wir noch in Los Angeles waren, entwickelte. Das traf auch auf die Anfangszeiten in der Kupfermine zu. Damals rief sie uns immer zu den Sitzungen zusammen. Während dieser Zeit verwandelte sie sich in etwas ganz anderes. Sie wurde eine andere, davon bin ich überzeugt. Später wurde es dann sogar körperlich.« Martha spielte mit ihrem Feuerzeug, griff nach einer Medikamentenpackung und schob dann den Aschenbecher hin und her.
»Körperlich?«
Martha warf Kyle einen strengen Blick zu. »Vergewaltigung, perverse Sexpraktiken.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und natürlich hat sie uns auch geschlagen, die Schlampe.« Wieder gab es eine längere Pause. Martha sah aus dem Fenster, als suchte sie nach einem Fluchtweg. »Ja, das alles gefiel ihr. Sie liebte es, wenn wir bettelten. Um Vergebung. Ich glaube, es war dieses Betteln, das sie total anmachte, wenn sie dabei war oder wenn die Sieben ihr davon berichteten. Was wir angeblich falsch gemacht hatten, war vollkommen egal. Das, was wir während der Sitzungen erzählten, war sowieso ausgedacht, damit wir etwas zu beichten hatten. Aber es war die … Unterwerfung, auf die sie abgefahren ist. Sie jagte uns eine höllische Angst ein und brachte uns dazu,
ihr in dieser dreckigen Hütte, den sie Tempel nannte, alles zu erzählen. Ich hab’s in ihren Augen gesehen. In diesen bösen grünen Augen. Diese verdammte Hure.«
Martha hielt inne. Ihre Hände zitterten. Ungeschickt drückte sie ihre Zigarette aus und zündete sich eine neue an. Blickte sehnsüchtig auf die Flasche Bourbon. »Sie leuchteten viel heller, wenn jemand weinte oder schrie oder einfach nur gedemütigt am Boden lag und nicht mehr konnte. Sie benutzte alles als Waffe. Sex. Die Sonne, in die sie dich stellte. Die Kälte, in der sie dich sitzen ließ. Die beschissene Befehlskette. Die Kinder. Egal was ihr in die Hände fiel.«
Martha zog heftig an ihrer Zigarette. Die Glut leuchtete so grell, dass es wirkte, als wollte sie damit die düstere Küche ausleuchten. »Alle waren verängstigt. So wurden wir kontrolliert. Durch Angst. Niemand blieb lange ihr Liebling. Aber wenn sie dich anlächelte oder wenn einer von den Sieben dir was Nettes sagte, dann hast du alles getan, um auserwählt zu bleiben.«
»Was hat sie denn so verändert? Können Sie etwas benennen, das sie dazu gebracht hat, sich so schlecht zu benehmen? Das sie drängte, Sie so übel zu behandeln?«
Martha nickte und lächelte wissend. »Klar kann ich das. Sie verwandelte sich in dem Moment, als ihre Anhänger sie verließen.
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