Der letzte Tag: Roman (German Edition)
ihm einen Blick zu, aber Kyle schaute unverwandt auf Martha. Sie hatte sich jetzt wieder aufrecht hingesetzt und schüttelte den Kopf, die Hände immer noch vor das Gesicht geschlagen. »Die Welt hört auf sich zu drehen. Alles wird still. Ganz ruhig. Aber das ist nicht natürlich. Dann kommt dieser Geruch. Der Gestank. Nichts hat sich seither verändert. Alles ist noch da.«
»Wann passiert … wann ist das passiert, Martha?«
»Während der Sitzungen. Wir alle konnten es sehen. Jeder von uns. Wir sahen die gleichen Dinge. Diese ganzen toten Menschen, die zerstückelt waren und brannten. Während der Sitzungen fing das alles an. Wenn wir total erschöpft waren. Wegen der ganzen Bekenntnisse. Da sahen wir es dann alle.«
»Eine Vision?«
Martha nickte. Wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Warum sehe ich es immer wieder, wenn es doch angeblich an den Drogen liegen soll? Die einzigen Drogen, die ich heute noch nehme, sind die Medikamente, die mir der Arzt verschreibt.«
Kyle spürte einen Kloß im Hals. »Sie hatten im Tempel in der Mine alle die gleiche Vision, sahen Menschen, die gefoltert wurden … im Regen?«
»Nicht nur das. Bevor ich mit Bridgette geflüchtet bin, hat sie noch etwas anderes gesehen. Draußen vor dem Tempel. Das war nach der letzten Sitzung, an der wir teilnahmen. Sie sah diese Erscheinungen. Wir sahen sie alle. Aber ihr wurde schlecht von dem Gestank. Und als … als sie hereinkamen und uns berührten … in der Luft … verließ Bridgette den Tempel. Sie rannte nach draußen, um sich zu übergeben. Und später hat sie mir dann erzählt, dass der Himmel sich verändert hatte. Er sah ganz anders aus. Sie sagte, sie hätte riechen können, wovon wir geträumt hatten. Und der Himmel war total neblig … ein gelber, schmutziger Nebel. Er war noch weit entfernt, aber er näherte sich sehr schnell. Und sie hörte Stimmen. Hoch über ihrem Kopf. Sie sah, wie zwei Hunde auf den Nebel zurannten und wie verrückt bellten. Sie kamen nie mehr heraus … das passierte direkt vor ihren Augen. Sie verschwanden einfach. Und dann, sagte sie, sei der Hund über ihr gewesen, über ihrem Kopf, im Himmel. In der Luft, die in Wellen hin und her waberte. Wie dieses Flimmern, wenn man an einem heißen Tag über den Wüstensand schaut. Aber sie sank nach unten. Die Wellen kamen von dort, wo die Hunde jaulten und schrien, zusammen mit vielen Menschen, die sie nicht sehen konnte. Alles dort oben. Sie war keine Lügnerin. Sie hat es gesehen.«
Aguilars Sohn hatte das gleiche Phänomen im Nebel beobachtet. Conway hatte das Ende einer ähnlichen atmosphärischen Erscheinung beschrieben. Und hatte Kyle selbst nicht so eine Vision gehabt, eine beängstigende Halluzination in der Fermette in der Normandie … nachdem er in dieser dunklen Scheune von irgendeinem Ding berührt worden war? … Um Gottes willen! … und was war das in seinen Träumen gewesen?
Martha wischte sich erneut die Tränen aus dem Gesicht und fluchte leise vor sich hin. Sie griff nach der Whiskyflasche. Dan sah Kyle an, der mit leerem Blick unverwandt auf die Tischplatte starrte.
»Anscheinend haben Sie auch ein paar Geister gesehen und könnten einen guten Schluck gebrauchen.«
Kyle schaute Martha an und nickte. Dan holte zwei Gläser aus dem Regal neben dem Herd. »Sie auch, starker Mann?«, hörte Kyle Martha sagen, jenseits des Gedankenwirrwarrs und dem Durcheinander unzähliger Stimmen in seinem Kopf. »Sie sagten … Martha, Sie sagten, es ist immer noch das Gleiche. Was meinten Sie damit?«
Dan stellte sich wieder hinter die Kamera. Martha schob Kyle über den Tisch ein Glas Whisky zu. Sie lächelte bitter. »Ich schätze, damit meine ich wohl, dass niemand den Tempel der Letzten Tage verlassen kann. Wenn man einmal drinsteckt, kommt man sein Leben lang nicht mehr raus. Vielleicht sogar nicht mal danach.«
Kyle hätte am liebsten laut ausgerufen: Aber ich war doch nie drin!
»Dort draußen sind Dinge vorgefallen.« Sie blickte zur Decke. »Dinge, die niemand glauben kann, es sei denn, er sieht sie mit eigenen Augen. Unnatürliche Dinge. Die Erscheinungen, die wir auf das LSD schoben, waren echt. Einmal sah ich, wie Katherine ein Stück ging, ohne den Boden zu berühren. Sie war von ihrem Stuhl aufgesprungen und schrie laut, dass sie da seien. ›Unter uns! Unter uns!‹, schrie sie immer wieder, als wäre sie völlig verrückt geworden. Ein anderes Mal zeigte sie uns ihre Sünde, die aus ihr herauskam. Haben Sie
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