Der letzte Tag: Roman (German Edition)
nach Atem rangen.
Mit Lampen, Tonausrüstung, Kamera und Stativ stolperten Kyle und Dan durch die schmale Tür und folgten Martha in die stickige, staubige Luft auf dem Dachboden unter den gekreuzten Giebelbalken. Kyle entdeckte einen freien Platz und legte die Tonausrüstung und das Stativ auf die rohen Holzbohlen.
Durch ein Fenster mit Rundbogen fielen dünne weiße Lichtstreifen auf den schmutzigen Boden, aber das schräge Dach blieb im Dunklen. Um sie herum standen zerborstene Teekisten, die mit rostigen Metallbändern beschlagen waren, dazwischen eine völlig eingestaubte Kinderkarre, zwei große Rollkoffer und Weihnachtsdekoration in einer Kiste, auf der der Schriftzug Rinso zu lesen war.
»Sie müssen das Licht einschalten, um sie zu sehen. Hier oben gibt’s keinen Strom.«
Dan legte ein Verlängerungskabel die Treppe hinunter und suchte im ersten Stock nach einer Steckdose. Kyle baute das Stativ auf und kümmerte sich um den Ton. Als Dan zurückkam, fuhr er die Lichtstative aus und richtete die Scheinwerfer auf die Unterseite des Dachs, auf die Martha mit der glimmenden Spitze der Zigarette zwischen ihren nikotingelben Fingern deutete. Sie stand zwischen Stoffballen, die unter einem Schreibtisch aus grauem Metall und einer Holzleiter lagen.
Die Lampen summten leise, flammten dann mit einem lauten Klicken auf, und ein angenehmes warmes weißes Licht überflutete den Giebel, ließ die Ecken hinter den gekreuzten Dachbalken jedoch im Dunkeln. Sie starrten nach oben auf die Unterseite des Dachs, und zuerst konnte Kyle nur dicke Holzbretter mit vielen Wasserflecken erkennen. Er fragte sich, was genau er da eigentlich ansah. Dan blickte in seinen Sucher, zoomte und versuchte, ein Bild zu finden. Und dann bemerkten sie es beide gleichzeitig und verstanden, was hier los war.
»O Gott.«
»Scheiße.«
»Ist das …«
Martha wirkte zufrieden, wenn ihr auch unbehaglich zu sein schien, angesichts dessen, was da vor ihren Augen zutage trat. Es sah aus wie ein widerwärtiges expressionistisches Kunstwerk, das sich über die Dachbalken und die längs verlaufenden Holzbohlen erstreckte.
Vieles von dem, was sie dort sahen, war von Streifen durchzogen und formte sich aus feucht schimmernden Nähten. Der Rest schien tief in die umliegenden Deckenbalken eingesunken, wirkte verblichen und zerfallen, war offenbar kaum mehr als ein Durcheinander von undeutlichen Kratzern. Es gab auch fettig glänzende, weißliche Flächen, in denen man keine Einzelheiten ausmachen konnte, oder halb fertige Teile, die an Gliedmaßen oder Torsos erinnerten.
In Kyles Augen sah es aus, als hätte eine Horde vertrockneter Leiber versucht, wild durcheinanderstiebend durch das Dach zu dringen, war dort aber hängen geblieben und allmählich verblasst und hatte nur hässliche Abdrücke ihrer einstigen Formen zurückgelassen.
Er starrte eine Figur an, die halbwegs komplett zu sein schien. Über einem fein angedeuteten Brustkorb war ein Gesicht im Profil zu sehen, das gerade zu schreien schien. Was zunächst wie ein wirres Durcheinander erschien, entpuppte sich als Abbild eines Gebisses mit unnatürlich langen Zähnen. Über einer leeren Augenhöhle und einer unvollständigen, offenbar aus Knorpel geformten Nase waren ineinander verschlungene Finger zu erkennen. Bruchteile von Handwurzel- und Unterarmknochen schienen aus dem Holz herauszuragen. Es sah aus, als hätte die kleine Gestalt vor etwas Angst bekommen, das sie hier auf dem Dachboden erwartet und ihre Bewegungen gestoppt hatte. Das Ding war klein und auf eine unangenehme Art kindlich.
»Hier, sieh mal«, flüsterte Dan mit angespannter Stimme. Er war fasziniert und zugleich geschockt. Kyle schaute über das Kameraobjektiv auf das, was Dan gerade am Scheitel des Dachs filmte, direkt unterhalb des Mittelbalkens. »Siehst du das?«
Kyle sah es und hätte es lieber nicht gesehen. Am liebsten wäre er nach draußen gerannt, um nicht dort hinaufblicken zu müssen. Er war unfähig, zu atmen oder auch nur mit der Wimper zu zucken, als er diese Gestalt mit komplett sichtbarem Unterleib anstarrte, die sich mit den Händen an die Kehle fasste, die Arme über der Brust gekreuzt. Eine Andeutung von Haupthaar, das das knochige Gesicht umkränzte. Ein heftiger Gegenwind schien diese Gestalt gegen das Dach gedrückt zu haben, als sie gerade durch die Decke eindrang. Wulstige Gelenke und lange Oberschenkelknochen kennzeichneten die Beine, aber die unteren Gliedmaßen verliefen von den Knien an
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