Der letzte Tag: Roman (German Edition)
als würde ein Toter direkt im Dunkeln direkt neben einem stehen.«
»Was war das? Was hat sie zu dir gesagt?«, fragte Kyle, nachdem Dan auf dem Beifahrersitz Platz genommen und laut aufgestöhnt hatte.
Da Kyle die Schlüssel gehabt hatte und das Haus so schnell wie möglich hatte verlassen wollen, war er als Erster beim Auto angekommen. Er stand unter Schock und war unfähig etwas zu sagen, bis er wie ein willenloser Automat alle Sachen auf dem Rücksitz und im Kofferraum verstaut hatte. Aber er bemerkte, wie Dan und Martha auf der Veranda einen kurzen, aber intensiven Wortwechsel hatten, bevor sie sich voneinander verabschiedeten.
Dan drehte sich zu ihm um. In seinem unrasierten Gesicht war deutlich die Erleichterung zu erkennen, dass dieser Drehtermin endlich vorbei war. Dennoch wirkte er angespannt. »Sie sagte, dass wir nicht die Ersten gewesen sind.«
Kyle verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er biss die Zähne zusammen, und seine Wangenknochen traten hervor. »Wie bitte?«
»Nicht die ersten ›Filmleute‹, die Max losgeschickt hat, um sie zu interviewen. Es war schon mal jemand da. Letzten Monat.« Dan blickte verwirrt drein. »Vielleicht war es ja auch für ihn zu abgedreht. Das könnte man zu seiner Entschuldigung sagen.«
»Wen meinst du?«
»Malcolm Gonal.«
»Gonal!« Kyle schlug mit den Händen aufs Lenkrad. »Dieser gottverdammte Gonal! Warum hat Max mir das nicht gesagt? Er hat mir den ganzen Scheiß als exklusives Projekt angeboten, das nur ich machen könnte, weil er von seinem Drehteam hängengelassen wurde. Das war alles Blödsinn! Gonal war das verdammte Team. So ein Scheißkerl!«
»Max hat Martha gebeten, es dir nicht zu sagen. Er drohte damit, dass er ihr kein Geld geben würde. Sie wollte das Honorar eigentlich ihren Kindern zukommen lassen, aber …«
»Was aber?«
»Sie hat gemerkt … sie hat gemerkt, dass wir da mit reingezogen wurden. Sie vermutet, dass wir auch Dinge gesehen haben. Sie sagte, dass wäre ihr ›ziemlich schnell‹ aufgefallen. Und sie hat mich gewarnt, Alter. Dass wir uns von diesem Zeug fernhalten
sollen. Dass wir den Film nicht machen sollen. Weil wir in Gefahr sind. In ernsthafter Gefahr.« Dan blickte durch die Windschutzscheibe nach draußen, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren. »Ist ein bisschen spät inzwischen, hab ich ihr gesagt.«
Kyle stützte den Kopf in die Hände. Rieb sich das Gesicht. Schaute ins Sonnenlicht, um seine Augen von der Düsternis zu reinigen, der sie in diesem Haus begegnet waren.
Dan nickte vor sich hin. »Max benutzt uns.«
»Aber wir wissen nicht warum.«
»Was tun wir jetzt?«
Kyle ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken und zuckte mit den Schultern. »Ich bin müde. Ich bin einfach bloß unglaublich müde.«
»Ich brauch was zu trinken.«
The Regal Motel, Seattle
22. Juni 2011, 22 Uhr
Es war dunkel geworden. Von draußen drang unbarmherzig der ferne Verkehrslärm in sein Zimmer. Noch etwas, das ihn wachhielt.
Kyle saß still da, gegen die Kissen gelehnt, die er am Kopfende des Bettes übereinandergelegt hatte. Er stand unter Schock, und gleichzeitig konnte er nicht glauben, dass er tatsächlich im Besitz von derartig eigenartigem Filmmaterial war. Inzwischen waren ihnen so viele unglaubliche Tragödien enthüllt worden, dass er gar nicht anders konnte, als den ganzen Nachmittag und den frühen Abend systematisch das Material durchzugehen, um einen Rohschnitt von Marthas Aussagen zu machen. Danach hatte er sich die Interviews mit Sweeney und Aguilar erneut angesehen, um die dazu passenden Details herauszusuchen. Die Arbeit war das Einzige, was ihn vor einem totalen Nervenzusammenbruch bewahrte, nachdem er diesem Mahlstrom des Terrors ausgeliefert gewesen war.
Dan hatte geradezu obsessiv die Objektive poliert, die Kameras durchgecheckt und die Akkus aufgeladen, während Kyle das Material schnitt. »Die Linsen sind total verschmiert«, sagte er, als Kyle meinte, er solle sich nicht verrückt machen, sondern sich besser in der Stadt umschauen und ein bisschen entspannen,
während er den Rohschnitt fertigstellte und Szenen und Einstellungen notierte. Mehr hatten sie die ganze Zeit, seit sie ins Motel gekommen waren, nicht miteinander gesprochen. Früh am nächsten Morgen würden sie zurück nach London fliegen. Das letzte Interview war im Kasten, und eigentlich sollten sie den Erfolg irgendwo draußen bei einem Steak und ein paar Gläsern Bier feiern. Beide hatten daran gedacht, aber keiner hatte es zur
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