Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Lebendigeres hingekriegt?«
Es war eigentlich unmöglich, dass Gonal noch blasser wurde, als er ohnehin schon war, aber das passierte jetzt. Er rannte zum Sofa und durchsuchte die Papiere und DVDs, die dort herumlagen. »Ich kann’s mir nicht mehr ansehen. Ich muss aus dem Zimmer gehen. Es ist alles total schiefgegangen. Ich weiß nicht, was mit Magenta passiert ist, dem Medium. Sie ist einfach nur weggerannt. In die Wüste. Irgendwas war da bei uns. Man kann es auf einigen Bildern sehen.« Er sah Kyle an, seine Lippen zitterten, seine Stimme bebte. »Es war oben in der Luft. Über uns.«
Kyles Mund wurde trocken. »Hat euch was berührt?«
»Hä?« Er trat einen Schritt von Kyle zurück, schaute ihn an, als hätte er eine schlimme Krankheit, als wäre seine Frage der Beweis dafür, dass er sich angesteckt hatte. »Nee. Mich nicht. Dich etwa?«
Kyle nickte.
»Sie haben … dich berührt?« Seine Stimme war kaum zu hören.
»Ich glaube schon. In der Normandie. In dem Tempel dort. Ich weiß auch nicht. Ich dachte, das wäre ihre Art uns zu … zu verfolgen.«
Gonal blickte an sich herab. Ihm schien ein neuer Gedanke gekommen zu sein. »Und du hast nichts in deinem Zeug gefunden?«
»Was denn?«
»Als ich von Seattle zurück war, hab ich was in meiner Kameratasche gefunden. Einen Knochen.«
»Einen Knochen?«
Gonal nickte. »Einen ganz kleinen Knochen. Wie von einem Finger. Schwarz. Verbrannt. So ein kleines Gelenk.«
»Wo ist das jetzt?«
»Ich hab’s weggeschmissen. Es war ekelhaft. Aber ich schätze, auf diese Weise haben sie mich bis hierher verfolgt. Wie hätten sie mich sonst gefunden? Glaubst du, dass sie das so machen?«
»Himmlische Briefe.«
»Hä?«
»So hat Katherine sie genannt. Diese Überreste. Die Polizei hat sie in einem Labor an der Uni testen lassen. Sie waren über fünfhundert Jahre alt. Belial sagte, sie stammten von ›alten Freunden‹. Wie ist so was möglich?«
Gonal begann zu zittern. Kyle fürchtete, er könnte jeden Moment anfangen zu weinen.
»Träume, Malcolm. Die Träume. Hast du irgendwelche Dinge gesehen? Visionen gehabt?«
Malcolm zuckte zusammen, als wollte er der Frage ausweichen, aber dann brach er zusammen. Sein Mund klaffte auf und Speichel tropfte herab. Er nahm die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel seines schmutzigen Bademantels über seine feuchten Augen. Er schluchzte auf und nickte. »Ich schlafe überhaupt
nicht mehr. Ich kann nicht.« Er sah Kyle aus roten Augen an und blinzelte verstört. »So dringen sie ein. Sie kommen durch den Kopf.«
Kyle wandte sich ab, stolperte über ein Paar herumliegende Slipper neben dem Sofatisch. Trat ans Fenster, um frische Luft zu schnappen. In seinem Kopf dröhnte der Puls. Ihm war unnatürlich warm, er fühlte sich leicht, beinahe schwerelos.
Gonal eilte auf seinen kleinen Füßen in den bunten Socken zu ihm. »Ich bin an solchen Orten gewesen. Sie haben mich dorthin gebracht. Grässliche Orte. Alle Vögel waren tot. Alles hat gebrannt. Die Hunde jaulten und winselten. Menschen schrien durcheinander. Sie wurden verbrannt. Es war die Hölle, Mann. Sie haben versucht, mich mit in die Hölle zu nehmen. Ich sehe es auch vor mir, wenn ich wach bin. Es ist alles in meinen Kopf gestopft worden.« Er sprach nur noch leise murmelnd weiter. »Ich bin da oben gewesen.« Voller Angst starrte er zur Zimmerdecke. »Sie haben mich aus meinem Körper geholt.«
Kyle warf sich aufs Sofa und starrte seine Füße an, ohne sie tatsächlich wahrzunehmen. Der Beweis. Das war der Beweis, den er brauchte. Um zu bestätigen, dass er nicht verrückt war. Aber bald war er dran, denn hier sah er seine Zukunft vor sich, in der Person von Malcolm Gonal. Genau so würde er enden. Der Fußboden schimmerte am Rand seines Gesichtsfelds. Er hatte seinen Erschöpfungszustand jetzt hinter sich gelassen, er war jetzt darüber hinaus und in einem hyperrealen Bewusstseinszustand angekommen, in einem Bereich jenseits der Normalität. »Schlafen«, war das Einzige, was er noch sagen konnte.
Gonal schüttelte heftig den Kopf. »Nee, nee, nee. Du willst nicht schlafen, Mann. Dann kommen sie doch. Denk mal drüber nach. Denk nach. Denk nach. Das erste Mal haben sie sie in der Normandie gesehen, als sie in Trance waren. Dann auf einem Trip in der Kupfermine. Es gibt Bereiche in deinem Gehirn, mit denen du sie sehen kannst. Also musst du wach bleiben. Bei Bewusstsein.
Und im Licht. Du darfst nicht mal mit offenen Augen träumen, sonst dringen sie auch
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