Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Selbstüberschätzung. Sie legten ein extrem narzisstisches Verhalten an den Tag, gepaart mit dem fanatischen Streben nach Macht und Reichtum. Genau wie ihre Erbin Hermione Tirrill aus Kent, auch bekannt als Schwester Katherine, die Scheckfälscherin und ehemalige Bordellmutter.« Max warf Kyle einen Blick zu. »Bloßes Hörensagen? An Spekulationen und scheinbare Unwahrscheinlichkeiten dürften Sie in Ihrer Arbeit doch gewöhnt sein.«
»Langsam, Max. Sie bewegen sich da auf sehr dünnem Eis.«
»Alles nur Zufall? Oder Pech? Darauf würden unsere Kritiker und alle sonstigen Zweifler wahrscheinlich mit Ja antworten. Bis man ein bisschen genauer hinschaut, zum Beispiel bei diesem Hof in der Normandie. Errichtet auf dem entweihten Boden von St. Mayenne. Die geschichtlichen Hintergründe kennen Sie ja jetzt. Es scheint so, als wäre von diesen Ereignissen irgendetwas geblieben. Ein Überbleibsel mit großer Macht. Etwas, das unsere Gruppe angezogen hat, nachdem es uns bestimmte Visionen in London bescherte, in diesem Haus des Blutes. Es hat sich von Anfang an ganz tief in Katherine festgesetzt, davon bin ich mittlerweile
überzeugt. Hat sich an seine neue Auserwählte geklammert. An eine Person, die empfänglich war für seine Lügen, genau wie Lorche und Prowd es einmal gewesen waren. Ich glaube, dass es vollständig von Katherine Besitz ergriffen hatte, als die Reste ihrer Sekte sich auf den Weg nach Kalifornien machten, wo sie ihre Sehnsucht nach Ruhm und Glamour ausleben wollte. Gleichzeitig wollte sie alles hinter sich lassen, was sie mit dem Verschwinden einiger Angehöriger ihrer Gruppe in Verbindung brachte. Die drei Kinder und sechs Erwachsenen, die 1972 während eines verheerenden Sturms in der Normandie verschwanden.«
»Gabriels Brief von Bruder Abraham.«
Max nickte. »Was mich zu den anderen Übriggebliebenen des Tempels der Letzten Tage bringt, dieser letzten Inkarnation einer Organisation, die sich selbst in London ins Leben rief. Aber ich meine nicht Martha oder Bridgette oder eine der anderen, von denen wir ja wissen, dass sie inzwischen tot sind.«
»Sondern?«
»Die Kinder, Kyle. Die fünf Kinder aus der Kupfermine.«
»Sie wurden doch in staatliche Obhut gegeben.«
»Ja. Ganz recht. Deshalb musste ich ziemlich viel kostbare Zeit aufwenden, um sie ausfindig zu machen. In diesem Frühjahr ist es mir gelungen.«
»Sie haben sie gefunden? Ich habe gegoogelt, um …«
»Gegoogelt!« Max sah genervt zur Decke, riss sich dann wieder zusammen und fuhr mit seiner Filmvorführung fort. »Was ich herausfand, auf ziemlich unkonventionellen Wegen, hat mich nur bestärkt, diesen Dokumentarfilm in Auftrag zu geben.«
»Einen Film, den es nie geben wird.«
Max schaute Kyle böse an. »Sie haben wahrscheinlich eine der erstaunlichsten Geschichten im Kasten, die jemals erzählt wurden, mein Lieber. Falls Ihre künstlerische Integrität und Ihre Hingabe wirklich das sind, was Sie behauptet haben.«
Verwackelte Filmaufnahmen aus größerer Entfernung zeigten
zwei Männer auf dem Rasen eines Hauses, das offenbar äußerst wohlhabenden Bürgern gehörte. Es war sehr hell, und auf dem Gras lagen jede Menge Spielsachen für Hunde verstreut: Bälle, Knochen, ein angeknabberter Schuh. Zwei etwa vierzigjährige Männer waren zu sehen, die beide die gleichen roten Trainingsanzüge trugen. Aber was Kyle ziemlich verschreckte, war die Art, wie sie sich bewegten. Sie hockten auf allen vieren, lächelten sich an und beschnupperten sich gegenseitig. Die Zungen hingen ihnen aus dem Mund. Und aus einem der Münder drang schließlich dieses Geräusch, das von den weiter entfernt stehenden Kameramikrofonen aufgenommen wurde. Ein Bellen, die ziemlich gut getroffene Imitation von Hundegebell. Sie taten, als wären sie Hunde.
Eine ältere Frau trat ins Bild und ließ einen weißen Ball über den Rasen rollen. Die beiden Männer jagten ihm nach.
»Sardis und Papius hat Katherine die beiden genannt, als sie noch ganz klein waren, kurz nachdem sie sie ihren Müttern in der Kupfermine wegnahm. Es sind die Söhne von Schwester Rhea und Schwester Lelia, zwei von den Opfern, die am Zaun erschossen wurden, als sie in der Nacht des Aufstiegs zu entkommen versuchten. Ihre Kinder, diese beiden Männer hier, wurden von der Polizei aus Phoenix am 10. Juli 1975 aus der Mine geholt. Sie kamen in ein Heim und wurden sechs Monate später von einer Familie adoptiert. Weder Sardis noch Papius haben jemals ein normales Wort gesprochen, seit
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