Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Jammern. Aus einem Traum, in dem dünne Gestalten hektisch unter düsteren Dachbalken herumwuselten, kurz bevor die Erinnerung daran in seinem Kopf verblasste. Er versuchte sich zu entsinnen, wo er in diesem Traum gewesen war, aber die Geräusche in seinem unbeleuchteten Motelzimmer nahmen seine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Kehliges Bellen untermalt von Vogelgeschrei drang
durch seine Ohrstöpsel. So etwas Ähnliches hatte er schon mal gehört. Drängende Warnrufe oder aufgeregtes Kreischen, verbunden mit einem pfeifenden Keuchen.
Da war Licht. Er drehte den Kopf. An der gegenüberliegenden Seite des Zimmers stand eine Tür auf. Das Badezimmer. Daraus drang silbriges Licht, so grell, dass seine Augen schmerzten. Er richtete sich auf und rief nach Max und nach Jed, aber in seiner Angst und Orientierungslosigkeit brachte er aus seiner ausgedörrten Kehle ihre Namen nur leise hervor.
Er konnte die anderen beiden hören. Sie sprachen mit lauten Stimmen, um sich einander verständlich zu machen in dem Lärm, der jenseits der grell erleuchteten Türöffnung herrschte.
Kyle tastete nach dem Tageslichtsimulator neben seinem Bett. Die Lampe war verschwunden. Er zog am Band der Leselampe über ihm. Nichts. Er stand hastig auf, stolperte und fiel in der Dunkelheit auf das Bett direkt neben seinem. Sofort stemmte er sich wieder hoch. Er hatte keinen Gleichgewichtssinn. Weder sein Kopf, noch seine Beine schienen durchblutet zu sein. Er taumelte zur Seite und stieß gegen die Wand. Richtete sich wieder auf und fiel nach hinten. Landete hart mit dem Hintern auf seinem Bett und kam sich dumm vor. Schämte sich für seine Angst.
Dann wurde er zornig. Er trat um sich. Schlug mit den Fäusten in alle Richtungen. Stand auf und stolperte dorthin, wo er den Tisch vermutete. Tastete mit den Händen über die Landkarten und die glatte Oberfläche der Fotografien, aber die Pistolen im Halfter konnte er nicht finden.
Hinter der Badezimmertür war Max’ Stimme zu hören. Er sprach Französisch. Ein Name, den er kannte, wurde zweimal genannt, in einem fragenden Ton. »Katherine? Katherine?« Aber dann wurde seine Stimme wieder überdeckt von dem wilden Schwall durcheinandertosender, kratzig klingender Töne.
»Max! Max!«, rief Kyle durch die einen Spaltbreit geöffnete Badezimmertür. Er hatte viel zu viel Angst, um einfach einzutreten.
Keine Antwort. Kyle schob die Tür auf. Grellweißes Licht wurde ihm entgegengeschleudert und erleuchtete das Hotelzimmer hinter ihm silbrig-blau.
»O Gott«, sagte er. Verwesungsgeruch drang ihm in die Nase. Die Türschwelle schien eine Trennlinie zu sein, die das wilde Durcheinander, das im Badezimmer tobte, zurückhielt oder bannte. Und jetzt, als er sie überschritt, kam es ihm mit voller Wucht entgegen, dieses ganze Rasseln und Zischen von vergehenden letzten Atemzügen, das irgendwie monströs verstärkt wurde.
Einen Moment lang konnte er nicht erkennen, was Max und Jed dort eigentlich taten. Ihre Körper verdeckten ihm die Sicht. Das blaue Poloshirt, das sich über Jeds breiten Rücken spannte, war unter den Armen und zwischen den Schultern schweißgetränkt. Max stand gebückt hinter ihm. Sein Gesicht war völlig verzerrt vor Ekel, angesichts dessen, was er in der Badewanne vor sich sah. Dorthin hatte er seine Frage gerichtet.
Jed drehte sich zu Kyle um und brüllte: »Mach die Tür zu, um Himmels willen!«
Max warf Kyle einen Blick zu und schien ihn nicht zu erkennen. Dann nickte er knapp und sagte: »Komm rein! Schnell!«
Kyle trat ins Badezimmer und warf die Tür hinter sich zu. Sie schloss aber nicht, weil das schwarze Stromkabel nach draußen verlief, zu dem Mischpult, von dem die drei Tageslichtlampen gespeist wurden. Das bedeutete, Max hatte die Lampen ins Badezimmer getragen, während Kyle schlief. Hatte ihn sich selbst überlassen, allein und ohne Schutz.
Max trat zur Seite und fasste Kyle am Oberarm, als wäre er ein Kind. Zog ihn von Jeds Rücken weg. »Wir haben eins gefangen!« , sagte er mit einer derart übertriebenen Begeisterung in der Stimme, dass Kyle ihn anstarrte und ein weiteres Mal zu dem Schluss kam, dass der Mann wahnsinnig sein musste.
Kyle hustete, um wieder zu Atem zu kommen und seine Lungen
von dem Verwesungs- und Abwassergeruch zu reinigen. Ihm war beinahe schlecht. Er schaute in die Wanne. Und musste den Blick sofort wieder abwenden. Hielt sich Mund und Nase mit den Händen zu. »O Gott.« Und wieder verspürte er den Drang, loszurennen und nicht mehr
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