Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Ihre Auserwählten. Viele Leute wurden im ersten Jahr in den Kreis der Sieben aufgenommen und später wieder degradiert. Aber ihre Lieblinge im letzten Jahr ihrer Londoner Zeit waren Serapis, Belus, Orcus, Ades und Azazal. Außerdem die Schwestern Gehenna und Bellona. Das waren die Aufpasser, die für sie alles unter Kontrolle hielten. Sie taten immer sehr distanziert. Sie lachten nie, drehten sich aber manchmal um und starrten einen intensiv an, ganz direkt. Als würden sie tief in dein Innerstes blicken. Das war total beängstigend, weil man dann dachte, man hätte etwas getan, was Katherine nicht gefiel. Sie erstatteten ihr ja ständig Bericht. Wir lebten die ganze Zeit in der Angst, während einer Sitzung angegriffen zu werden, weil wir uns nicht konsequent verhielten, weil wir uns nicht genug einbrachten.«
Kyle hatte das Gefühl, dass sie hier ziemlich gutes Material drehten. Susan erzählte sehr lebendig und gab nach kurzen Nachfragen jede Menge interessanter Informationen preis, vor allem aber sah die Beleuchtung auf dem Monitor einfach großartig aus. Dan war es gelungen, jedem Raum, in dem sie ihre Aussagen filmten, eine klaustrophobische Atmosphäre zu verleihen. Sein anfängliches Unbehagen wegen Susans eigenartiger Erscheinung und angesichts der leeren Räume war verflogen. Und die zusätzlichen atmosphärischen Geräusche, die sie in jedem Raum aufnahmen, stellten ein unerwartetes Bonusmaterial dar.
Seit den Dreharbeiten zu Hexenzirkel in Schottland, wo er zufällig einige unerklärliche unterirdische Geräusche in einem Tunnel unter dem Bischofspalast aufgenommen hatte, hatte er sich vorgenommen, immer jede Menge Geräusche unter freiem Himmel und in Gebäuden aufzunehmen. Das hatte sich auch bei ihrem letzten Film Blutrausch bewährt. Was er dabei an Material bekam, war oftmals besser als die Musik des Soundtracks. Bei Blutrausch war das Rauschen des schwedischen Urwalds das einzige Geräusch für die gesamte Dokumentation gewesen. Mehr als dieses Rauschen war nicht nötig gewesen, um das Gefühl von Verlorenheit inmitten einer unendlichen, uralten Wildnis hoch im Norden zu vermitteln. Bevor sie die Sequenz drehten, in der Susan ihre Abkehr von der Sekte erklärte, hatte er in seinen Kopfhörern ein Geräusch vernommen, das wie Stimmen einer weit entfernten Menschenmenge geklungen hatte. Noch bevor es ganz verhallt war, entschied er, dass es der Wind gewesen sein musste. Irgendwo in der Ferne. Aber es hatte sich dem Haus genähert und war bis ins obere Stockwerk gedrungen.
Das Mikrofon hatte wahrscheinlich einen Luftzug oder Strömungen aufgenommen, die aus irgendwelchen Schächten kamen, denn die Fenster waren alle geschlossen. Wegen der Verkehrsgeräusche draußen hatten sie darauf geachtet. Das Haus jedoch schien eine eigene, merkwürdige Klangumgebung zu erzeugen
und zwar von einer Art, die man kaum in irgendeinem Tonarchiv finden konnte.
»Susan, kannst du uns erzählen, wie Katherine sich im Laufe der Zeit verändert hat?« Susan war jetzt wieder nervös. Oder verunsichert, nachdem sie sich an die Sieben erinnert hatte. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sie jetzt zum ersten Mal im oberen Stockwerk stand. »Susan? Susan?«
Sie schaute auf. Er wiederholte die Frage.
»Ja, ja, Katherine. Im zweiten Jahr hat sie nur selten eine Sitzung geleitet. Sie hat sich hier oben abgekapselt.« Susan starrte die Wände an, etwas schien ihr nicht zu behagen. »Das muss im Jahr 1969 gewesen sein. Nach Weihnachten 1968 bekamen wir sie immer seltener zu sehen. Und ab April des folgenden Jahres habe ich sie überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
»Sie hat sich ganz zurückgezogen?«
»Völlig. Blieb hier oben. Wenn wir tagsüber draußen unterwegs waren, hat sie die Sieben unterrichtet. Sie haben dann in den Nächten ohne sie die Zusammenkünfte geleitet.«
»Und während Sie hier unten mit dreißig Leuten in einem Zimmer schlafen mussten, hatte sie das ganze obere Stockwerk für sich allein?«
Susan blickte genervt zur Decke. »Und für ihre Hunde. Ihre geliebten ›Vargs‹, die wie Könige bewirtet wurden. Das war der Moment, wo wir das hier oben ›das Penthouse‹ nannten, weil uns dieser Zustand missfiel. Sie fing dann auch an, einen purpurroten Umhang zu tragen. Das Purpur des Herrschers mit Hermelinbesatz. Auch die Sieben trugen Rot. Um sich von den anderen zu unterscheiden. Weil sie die Führer waren. Das mochte ich überhaupt nicht. Diese plötzliche Besonderheit von manchen, wo wir
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