Der letzte Tag: Roman (German Edition)
weltliche Existenz hinter sich zu lassen, war eine Grundvoraussetzung für den Eintritt. Man konnte nicht in einer anderen Familie Mitglied sein.«
»Das war sicherlich sehr beeindruckend.«
»Es war eine Bewegung. Es ging um die Zukunft! Um eine Revolution, dachten wir. Wir sollten herumwandernde Missionare werden. Uns nur auf unsere Sinne verlassen. Wir sollten uns ›reinigen‹, indem wir ›dem Wohlstand entsagen‹, so hat sie uns immer erklärt. Ganz neu beginnen. Wiedergeboren werden.« Susan hielt inne und schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube, das Einzige, das uns weitergeholfen hat, war die Freundlichkeit und Wohltätigkeit von Fremden.«
»Wozu diente dieses Stockwerk damals?«
Susan sah sich um. »Hier haben wir geschlafen. Außerdem in den beiden hinteren Räumen. Die Küche war ein Ruhezimmer, wo wir uns auf die Sitzungen vorbereiteten oder wo wir herumsaßen und darüber nachdachten, was wir in der vergangenen Nacht bei der Sitzung gelernt hatten. Wir saßen da und dachten darüber nach, wie gierig, selbstsüchtig, eifersüchtig und kindisch wir waren.
Ungefähr fünfzehn von uns schliefen auf dem Fußboden hier, in Schlafsäcken. Auf dünnen Matten. Überall waren Leute. Einmal waren es über fünfzig Personen, die in diesem Gebäude lebten. Man hatte keine Privatsphäre. Das war verboten. Zwei Jahre meines Lebens habe ich in diesem Zimmer geschlafen.«
»Aber Sie sind geblieben.«
Susan warf den Kopf zurück und lachte laut auf. »Wir waren doch Stars, mein lieber Mann. Berühmt. Die Leute liebten uns. Barfuß im Sommer oder mit Sandalen. Enge Lederstiefel im Winter. Schwarze Umhänge und lange Kleider. Wir sahen aus wie Hexen. Und die Jungs hatten lange Haare und Bärte. Ihre Augen waren durchdringend. Pentagramme aus roter Seide auf unseren Kleidern. Oder der Zirkel des Salomon, das Ankh-Zeichen, der keltische Knoten, der auf unsere Tracht gestickt war. An was wir glaubten, war völlig egal, aber wir hatten eine besondere Ausstrahlung. Wir waren gefährlich, jedenfalls wurden wir in manchen Zeitungsartikeln so dargestellt. Unsere Orgien! Wir würden den Teufel anbeten, hieß es. Schwarze Messen! Nackt!«
»War das alles übertrieben?«
»Lächerlich. Alles davon. Als Eingeweihte mussten wir das ganze erste Jahr im Zölibat leben. Und später, aber erst nach einer Beförderung, durfte man sich einen Freund nehmen. Aber nur einen, den sie für uns ausgesucht hat! Nie einen, den man gewollt hat. Es sei denn, man gehörte zu ihren Lieblingen.«
Susan kniff die Augen zusammen und warf einen wissenden Blick in die Kamera, den Kyle auf dem Laptop, den sie als Monitor benutzten, auffing. »Aber die Männer fühlten sich sehr angezogen von uns Mädchen der Zusammenkunft. Katherine erlaubte uns nur, Make-up aufzutragen und Parfüm zu benutzen, wenn wir losgingen, um Spenden zu sammeln und unsere Zeitschrift zu verkaufen. Sie ermunterte uns zu flirten. So konnten wir mehr einsammeln. Sie brachte uns bei, ihnen in die Augen zu sehen und süß zu lächeln wie unschuldige Novizinnen oder Mädels vom Lande. Ganz arglos. ›Sie sollen von einem anderen Leben träumen, wenn sie euch sehen‹, sagte sie uns. ›Von unserem Leben. Und von euch.‹ Aber wir konnten auch unnahbar sein. Auch das hat sie uns beigebracht. Waren wir also Jungfrauen oder Huren? Die Männer wussten es nie. Waren wir das unschuldige
Aushängeschild eines Teufelskults oder einfach nur verführerisch? Ich glaube, Katherine hatte eine eigenartige Beziehung zu Sex. Zu Männern und ihren Sehnsüchten. Aber sie hatte nichts dagegen, wenn wir das benutzten, um Spenden zu sammeln. Machen Sie sich darüber mal keine Illusionen.«
»Hier drin bin ich nie gewesen.« Susan schüttelte ungläubig den Kopf, als sie die Räume durchquerte, die einst das Penthouse von Schwester Katherine beherbergt hatten. Sie war verblüfft, wie viel Licht und Platz es hier im obersten Stockwerk gab. »Niemand bis auf die Sieben durfte hier hinaufkommen. Am Ende der Treppe war eine Tür eingebaut, mit einem schweren Türklopfer aus Messing. Die Tür trennte sie von uns in den unteren Stockwerken.«
Das Obergeschoss des Gebäudes war genau wie die Wohnungen unten umgebaut worden: Parkettboden, weiß gestrichene Wände, frische Farbe. Wie es damals ausgesehen hatte, als die Letzte Zusammenkunft hier gehaust hatte, konnte Kyle sich nur vage vorstellen. Fotografien gab es keine.
»Wer waren denn die Sieben?«
»Einer der Gründe, warum ich gegangen bin.
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