Der letzte Tag: Roman (German Edition)
viermal erlebt, dass es wirklich brutal wurde. Das war, als einige Jünger sich mit Stricken schlagen mussten. Wie nennt man so was? Selbstkasteiung.«
»Und die ganze Zeit über war sie hier oben und gönnte sich allen Luxus?«
Susan nickte. »Allmählich fühlte ich mich wie eine Sklavin. Immer draußen unterwegs sein müssen, um diese jämmerliche Zeitschrift zu verkaufen. Es war ein Trauerspiel. An manchen Tagen wurde man kein einziges Exemplar los, aber wer am meisten verkaufte, wurde belohnt. Ich hielt das einfach nicht mehr aus. Ich war schließlich so weit, dass ich um Geld bettelte. Es war mir total unangenehm, wieder hierher zurückzukommen. Weil sie mich und die anderen, die den Anforderungen nicht gerecht wurden, dann bestraften. Wir mussten die ganze Nacht draußen bleiben und Spenden in der Höhe zusammenbekommen, die am Morgen festgelegt worden war. War das alles, was wir erwarten durften – ein Dasein als völlig verarmte Sklaven zu fristen? Manche von den Mädchen verkauften ihre Gunst für Geld. Auf den Straßen.«
»War das der entscheidende Grund aufzuhören? Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte? Dass Sie so hart arbeiten mussten, ohne je dafür belohnt zu werden, während sie sich bereicherte?«
»Ich, ich muss mich setzen. Haben Sie vielleicht noch einen Schluck Wasser für mich?«
Kyle trat vor die Kamera und half Susan, sich auf den Boden
zu setzen, wo sie in sich versunken hocken blieb. Draußen stand die Sonne inzwischen schon tief, und der Himmel war übersät mit orange- und rosafarbenen Wölkchen, die Lücken dazwischen schimmerten rötlich. Er reichte ihr die Flasche, auf der schon ihr Lippenstift klebte, und schaute sich die traurige Gestalt an, die da vor ihm auf dem Boden saß. Sie fühlte sich erneut erniedrigt hier an diesem Ort. Kein Wunder, dass sie es schon draußen kaum geschafft hatte, einen Blick auf dieses Haus zu werfen.
Als sie weitermachten, starrte sie vor sich ins Leere, als hätte sie ganz vergessen, dass zwei Kameras im Zimmer waren. Es war nicht mehr ganz klar, mit wem sie eigentlich sprach. Dreimal musste Dan sie auffordern, in die Kamera zu blicken.
»Ich glaube, ich entschied mich zu gehen, als ich im zweiten Jahr draußen unterwegs war, um den Gospel zu verkaufen. Ich erinnere mich, dass ich an einem Tag erkältet war und Fieber hatte. Es war eine sehr heftige Grippe, und ich stand irgendwo in der Nähe des British Museum herum. Ich wurde ohnmächtig. Dann kam ich wieder zu mir, und mir war total schlecht. Also ging ich zu einer Bank, um mich auszuruhen. An diesem Tag war ich mit Schwester Hera unterwegs, konnte sie aber nirgends finden. Also setzte ich mich allein auf diese Bank, ich war völlig durchnässt. Mir fehlte jedes Selbstvertrauen und jeder Antrieb. Ich war total erledigt. Und während ich da auf dieser Bank im Regen saß und mich bemitleidete, bemerkte ich eine Ausgabe des Evening Standard , die jemand auf der Bank liegen gelassen hatte. Ich faltete sie auseinander und wollte sie als Regenschutz über den Kopf legen, als ich die Überschrift sah. Wissen Sie, es war wie ein Zeichen. Damals war alles irgendwie ein Zeichen. So sahen wir die Welt, das müssen Sie verstehen. Und die Überschrift lautete ungefähr so: ›Londons bekannteste Sektenführerin entlarvt‹. Ich blätterte weiter und schaute mir den Artikel an. Und da war ein Foto von ihr. Von Katherine. Auf den Gesellschaftsseiten. Sie war angezogen wie ein Filmstar und befand sich auf irgendeiner Party. Sie
trug teuren Schmuck und hatte eine tolle Frisur. Um sie herum lauter glamouröse Leute. Und ich saß hier durchnässt auf einer Bank im Regen. Ich ging sofort zum nächsten Zeitungsstand und kaufte zwanzig Exemplare. Gab das ganze Geld dafür aus, das ich an diesem Tag verdient hatte. Ich schleppte die Zeitungen hierher und verteilte sie. Um den anderen zu zeigen, für wen wir arbeiteten. Für was wir uns Tag und Nacht bei Wind und Wetter aufrieben. Und ich fragte sie, ob wir etwa dafür alles andere aufgegeben hatten.«
»Und gab es dann eine Revolte?«
Susan schüttelte müde den Kopf. »Nein. Eigentlich nicht. Es bestätigte nur denen, die sowieso schon die Schnauze voll hatten, was wir von Katherine dachten. Um diese Zeit waren ohnehin schon viele dabei, die Sekte zu verlassen. In ganzen Gruppen. Katherine hatte auch schon Drohbriefe von den Eltern von Schwester Urania bekommen. Das war eine mächtige, wohlhabende Familie. Ihr Erbe wurde jeden Monat von einer
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