Der letzte Tag: Roman (German Edition)
doch eine Gemeinschaft bilden sollten.«
»Haben Sie die Gruppe deshalb verlassen, wegen der Hierarchie, die nun aufgebaut wurde?«
»Das war einer der Gründe. Sie hat auch angefangen, Lieblinge
unter uns Jüngern herauszupicken. Meist waren es Mädchen. Die besten Bettlerinnen und Speichellecker. Mädchen, die sich ihr hingaben, ohne sie zu verunsichern. Die ganz Schlauen. Diejenigen, die ihr am ähnlichsten waren. Die andere gern beeinflussten. Die sich ihre Liebhaber aussuchen konnten. Und ihre Favoritinnen waren immer sehr hübsch. Sie hat sie als Köder benutzt. Die durften individuelle Meditations- und Therapie-Sitzungen für wohlhabende private Kunden durchführen. Die meisten von uns wurden gezwungen, im Zölibat zu leben, aber gleichzeitig führte sie eine Art Callgirl-Ring. Diese Mädchen taten alles für sie und für die Zusammenkunft. Wussten Sie, dass sie vorher ein Bordell geleitet hatte?«
Kyle nickte, während er auf den Monitor schaute.
»Nun ja, damals wussten wir das noch nicht. Das wurde erst später bekannt, nachdem das in Amerika passiert war. Aber sie hat ihren Lieblingen in der Wimpole Street Zimmer eingerichtet. Ein paar hübsche Jungs waren auch dabei. Denen hat sie sehr teure Geschenke gemacht, als Anerkennung für ihre Dienste. Sie hatten ihr eigenes Zimmer im ersten Stock, nach vorne hin. Um uns, die Normalen, anzustacheln und eifersüchtig zu machen, damit wir uns noch mehr anstrengten, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Und wir haben uns beeinflussen lassen. Unsere Gefühle. Wir waren schlecht gelaunt. Sprachen schlecht über einander. Und die Sieben hatten sogar Spitzel unter uns. O ja.«
»Was denken Sie, hat sie da oben so gemacht?«
Susan verzog enttäuscht und zornig das Gesicht. »Uns wurde gesagt, Katherine würde dort oben in aller Zurückgezogenheit meditieren. Aber sie sei trotzdem die ganze Zeit bei uns. Immer gegenwärtig. Angeblich wüsste sie alles über uns, jederzeit. Und genau das dachten und fühlten wir auch. Die Sieben behaupteten, sie würde uns beschützen. Uns beobachten und prüfen, ob wir zum Kreis der Auserwählten gehörten. Zu denen, die aufsteigen würden. Aber natürlich hatten wir schon alles über uns bei den
früheren Sitzungen preisgegeben, deshalb kannte sie ohnehin alle unsere Geheimnisse. Sie wusste ganz genau, auf welche Weise sie uns beeinflussen konnte. Sie befahl den Sieben, dass sie dieses Wissen benutzen sollten, um uns der Abtrünnigkeit zu beschuldigen. Während der Sitzungen. Um Einzelne auszugrenzen. Und sie trafen immer genau ins Schwarze. Wir konnten ihre Vorwürfe nie entkräften, und deshalb bekannten wir uns erst recht schuldig und verstrickten uns immer mehr.«
»Warum taten Sie das?«
»Wir waren verzweifelt. Wir wollten unbedingt anerkannt werden. Wir hatten Angst davor, ausgeschlossen zu werden. Fürchteten ihre Missbilligung, wenn wir nicht irgendein Fehlverhalten beichteten. Katherines Rückzug aus unserer Mitte machte alles nur noch geheimnisvoller, verstärkte noch das ganze Mysterium, das sie umgab. Oh, sie war wirklich sehr clever. Und faul. Wenn sie hier oben blieb, bescherte ihr das noch mehr Macht, ohne dass sie einen Finger rühren musste. Alles, was sie tat, war strategisch durchdacht.«
»Was hat sie denn mit den Leuten gemacht, die bei ihr in Ungnade gefallen sind?«
»In meinem zweiten Jahr wurde ich wegen Ungehorsams schrecklich bestraft. Wirklich schrecklich.«
»Möchten Sie uns davon erzählen? Waren das körperliche Züchtigungen?«
»In gewisser Weise schon. Aber zuerst wurde man ausgeschlossen. Was noch viel schlimmer war als das, was später kam. Die anderen machten sich lustig über einen, man forderte sie bei den Sitzungen auf, die schlimmsten Dinge über jemanden zu sagen, die ihnen einfielen. In diesem Raum, in dem wir vorher allem anderen abgeschworen hatten. An diesem Ort der Offenheit, der Speisung, der Gemeinschaft. Es war wie ein Sakrileg. Was es dann auch wurde.«
»Aber es gab auch körperliche Misshandlungen?«
Susan verzog das Gesicht. »Ja, aber nicht so, wie es in den Zeitungen stand. Man musste es sich selbst zufügen. Ich habe nie miterlebt, dass jemand von einem anderen gequält wurde. Ich glaube nicht, dass so etwas jemals vorkam. Aber das, was sie später in Frankreich und in Amerika praktizierten, wurde hier erdacht. Diese körperliche Erniedrigung. Jemanden vor der ganzen Gruppe zu degradieren. Jemanden als schlechtes Beispiel hinzustellen. Ich habe während meiner Zeit nur
Weitere Kostenlose Bücher