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Der letzte Tag: Roman (German Edition)

Der letzte Tag: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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wie Heiligtümer behandelt. Sie waren immer sehr teuer und kamen uns unwirklich vor, denn wir hatten ja nichts. Nur unsere Trachten. Wir lebten wie Bettler, und sie kaufte teure Schmuckstücke für ihre Lieblinge. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns damals begriff, dass wir hereingelegt worden waren. Dass wir uns von
einer cleveren Bordellmutter versklaven ließen, die bestimmte Gehirnwäsche-Techniken im Frauengefängnis gelernt hatte. Dort hatte sie ja eine Strafe wegen Zuhälterei abgesessen!«
    Susan schloss die Augen und stöhnte auf vor Schmerz und Müdigkeit. Kyle ließ sie eine ganze Minute schweigend dort sitzen. Sie war ein Glücksgriff, sie war absolut authentisch.
    »Susan, es wird behauptet, sie hätte sich für eine Heilige gehalten. Hat denn jemand von Ihnen wirklich geglaubt, dass sie auf einer höheren Stufe stand?«
    »Ich nie. Der Grund, weshalb ich fortging, war ein anderer. Ich weiß nicht mehr genau, wann es anfing, aber es wurden immer mehr seltsame Dinge über sie verbreitet. Ich erinnere mich noch, dass Bruder Ethan sie eine ›lebende Heilige‹ nannte. Anschließend gab es ein heftiges Streitgespräch, weil ich nämlich gelacht hatte. Wissen Sie, die Zusammenkunft war ja nie von etwas Göttlichem inspiriert. Es ging ja vor allem darum, etwas anderes als die organisierten Religionen anzubieten. Und nun auf einmal hatten wir Hohepriester und eine angebliche lebende Heilige, die uns beherrschten. Für viele von uns war das eine herbe Enttäuschung. Aber ich hatte der Zusammenkunft so viel gegeben, dass ich mich immer noch weigerte, die Gruppe einfach so zu verlassen. Vielen anderen ging es genauso.
    Während der Sitzungen wurde uns von den Sieben erklärt, Katherine sei inzwischen so weit vorangeschritten in ihrem Wiedergeburtszyklus, dass sie sich in einen echten heiligen Geist zurückverwandle. Ihre lebenslange Suche nach dem Göttlichen in ihr selbst hätte Erfolg gehabt. Also war alles an ihr göttlich und wahrhaftig. Was immer sie von nun an tat, es war stets zu rechtfertigen. Uns wurde gesagt, sie würde sich bereits auf ein Stadium jenseits der Sterblichkeit hin entwickeln, und dass alle, die ihr folgten, auserwählt würden. Wir würden ›gesegnet‹ werden. Weil wir so unschuldig seien. Unter ihrer Führung hätten wir wieder das Stadium unserer ursprünglichen Unschuld erreicht. So wie
Engel. Und jeder könnte von uns Auserwählten für unsere Ziele benutzt werden, weil wir ja vollkommen unschuldig seien. Und weil sie die sieben Stufen der Seele, wie sie es nannten, vollendet habe, sei sie in der Lage, das zu erreichen, was sie uns gegenüber als ›vollkommene Göttlichkeit‹ bezeichneten. Die Sieben erklärten uns, Katherine könne nicht mehr bei uns sein, weil sie gerade dabei sei zu inkarnieren. Sie erreiche jetzt eine höhere Seinsstufe.
    Und ihre Heiligkeit habe andere Kräfte angelockt. Erscheinungen. Diese wiederum hätten ihr die Gabe der Prophezeiung verliehen. Uns wurde erzählt, sie hätte in direktem Kontakt mit diesen ›Erscheinungen‹ gestanden. Ab diesem Moment änderte sich die Atmosphäre sehr deutlich.«
    »Der heilige Schrecken?«
    Susan nickte.
    »Wie hat es sich verändert? Konnte man das körperlich spüren?«
    »Ja. Ja, das konnte man. In den frühen Morgenstunden, wenn die Sitzungen ihren Höhepunkt erreichten. Wenn die Teilnehmer erschöpft waren. Und schwach. Ausgelaugt vom vielen Weinen und Bekennen und vom Widerstand gegen die ständige Bevormundung. Immer zu diesem Zeitpunkt wurde uns erzählt, es wären nun andere ›Wesen‹ oder ›Erscheinungen‹ unter uns.«
    Kyle wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, eine weitere von Max’ Fragen zu stellen. »Haben Sie gesehen, dass sich irgendetwas in dieser Art manifestiert hat? Oder war es nur ein Gefühl, dass sich etwas Atmosphärisches geändert hatte?«
    »Ich glaube, die Luft war anders. Vielleicht kälter. Dichter. Als wären weitere Personen in den Raum gekommen, hätten sich dazugesellt, aber irgendwo hinter uns. Das ist alles nur Einbildung, werden Sie jetzt sagen. Das sehe ich an Ihrem Gesichtsausdruck. Ich nehme Ihnen das nicht übel. Mir ging’s ja genauso. Wir waren damals alle sehr beeinflussbar. Wir waren erschöpft und hungrig und nervös und verängstigt. Aber ich erinnere mich noch genau,
dass es sehr eigenartig roch. Ganz grässlich. So wie ein stehendes Gewässer. Wie feuchte Kleider, die lange nicht gelüftet wurden. Um uns herum. Dort unten bei uns.« Susan deutete zu

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