Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Wäldchen, und zu weinen angefangen hatte, gab er es auf.
Dan blieb bei dem Alten und ließ dabei unauffällig die erste Kamera auf dem Schulterstativ mitlaufen. »Nimm’s auf«, hatte Kyle ihm zugeflüstert, als sie aneinander vorbeigegangen waren. Später konnte er sich dann noch Gedanken darüber machen, wie er damit umging, dass Bruder Gabriel seine Einwilligung, gefilmt zu werden, zurückgezogen hatte.
Kyle betrat das letzte Gebäude, den Tempel, ganz allein. Er ging vorsichtig in das Haus, wo laut Levine Schwester Katherines Ego, Paranoia und hasserfüllte Missgunst ihre Gefolgschaft derart
vergiftet hatte, dass es zur ersten Spaltung gekommen war, als fünf Angehörige ihrer Prätorianergarde der Sieben rebellierten. Die letzten Tage der Sekte in der Normandie gipfelten, wie Levine es ausdrückte, in einem »Ausbruch von Wut, Eifersucht und Zwietracht. Und in diesem Mahlstrom pathologischer Selbstsucht und sadistischer Grausamkeit wurde der Tempel der Letzten Tage gegründet, als schlimmste Ausprägung dieses eigenartigen Kults.«
Im Inneren des Tempels, wo, wie sie erfahren hatten, Schwester Katherine ganze Nächte lang ihre Beichtsitzungen abgehalten hatte, waren die Wände noch immer größtenteils schwarz gestrichen. Nur an wenigen Stellen stachen mit Schimmelpilz bedeckte grünliche Steine hervor. Die hohe Holzdecke war noch immer vollkommen schwarz, was dazu beitrug, dass man hier leicht die Orientierung verlor. Kein Wunder, dass er hier drinnen so dunkel war, auch wenn durch die vier kaputten Fenster ein wenig blasses Licht drang. Kyle konnte in dem Zwielicht kaum seine Füße erkennen, während er über den von welken Blättern bedeckten Boden lief. Die Scherben der Fensterscheiben, die er draußen gefunden hatte, waren ebenfalls auf einer Seite schwarz gestrichen, was bedeutete, dass der Tempel völlig von natürlichem Licht abgeschottet gewesen war.
Weiter im Innern ließ ihn der schreckliche Geruch nach Verwesung innehalten. Irgendwas war hier reingekommen und gestorben, hatte womöglich noch andere Tiere angezogen, die nun auch tot waren. Kleintiere, vielleicht Vögel, vergammeltes Fleisch. Aber auf dem verschmutzten Boden konnte er kaum etwas erkennen und die Quelle dieses Gestanks nicht ausmachen.
»Hier stinkt’s«, stellte Dan fest, als er in der Türöffnung erschien, die Kamera auf der Schulter.
»Was du nicht sagst. Komm, lass uns loslegen. Film das hier drinnen mal. Ich hole die Mikros und spreche einen Text drüber.«
»Ist vielleicht zu dunkel.«
»Versuch trotzdem zuerst mal, mit dem vorhandenen Licht auszukommen, bitte.«
Dan nahm die Kamera herunter und sah sie nachdenklich an. »Die ist erstaunlich lichtempfindlich, aber hier drin ist es wirklich verdammt duster. Ich werde den ND-Filter wechseln. Mal sehen, was das bringt.«
»Gut, dann hole ich Gabriel her.«
»Vergiss es. Er hat gesagt, er will jetzt zurückgehen. Zum Wagen. Er ist schon halb übers Feld.«
»Du willst mich wohl verarschen!« Dies war die Szene, in der er Max’ Fragen über die Erscheinungen hatte stellen wollen.
»Nein. Der ist total verängstigt. So langsam macht er mich auch nervös.«
»Gott, jetzt geht alles schief.« Kyle vergrub das Gesicht in den Händen und schloss für eine Weile die Augen. »Hör zu, wie wir es machen. Du stellst die Kamera so auf, dass wir die Türöffnung im Bild haben, und ich spreche den restlichen Text. Wir haben nicht genug Zeit, um morgen noch mal herzukommen und weiterzumachen. Wenn du aufgebaut hast, gehst du zu unserem Bruder Angsthase, kommst zurück und hilfst mir, hier genug Licht zu setzen, damit wir eine zweite Aufnahme machen können.«
Dan montierte die Kamera aufs Stativ und schaltete sie ein. Dann stiefelte er los, um Bruder Gabriel zu suchen.
Kyle hockte sich mit aufgesetzten Kopfhörern vor den Laptop und den DAT-Rekorder. Er räusperte sich, schlug die Klappe und senkte unabsichtlich die Stimme, als würde er diesem Ort mit Ehrfurcht begegnen. »Dies war das Herz des Kults, so wie das Haus am Holland Park gewissermaßen die Gebärmutter war, bevor die Sekte ihren Exodus in die Normandie begann. Hier befand sich das spirituelle Zentrum dieser sehr eigenartigen Religion, bis zu dem Zeitpunkt, als Schwester Katherine erkannte, dass eine Übersiedlung nach Amerika ihnen viel mehr Geld und Anerkennung bringen würde als die völlige Abgeschiedenheit
hier in dieser Gegend. Entweder dies war der Grund, oder sie hatten Leichen im Keller. Womöglich sogar
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