Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Wand abgeblättert und einige Zentimeter Mauerfläche waren zu sehen. Aber hier konnte er keine ungewöhnlichen Verfärbungen mehr erkennen.
Bis er die Kopfseite des Tempelraums erreichte. In der Mitte der Mauer stieß er auf etwas, das aussah wie Füße, die weder von einem Gewebe noch von Fleisch umgeben waren. Sie hingen knapp einen Meter über dem Boden, und es wirkte, als würde der Besitzer der Füße schweben. Sofort ließ er das Feuerzeug zuschnappen. Dann wurde ihm klar, dass es in der Nähe dieser skelettartigen Füße im Dunkeln noch unheimlicher war, und er fummelte hastig an dem Feuerzeug herum, bis die Flamme wieder aufleuchtete. Und nun erkannte er, dass es sich nicht nur
um Füße handelte, sondern um eine ganze Silhouette mit allen möglichen Details, die er nun im Schein des flackernden Lichts erkundete.
Das, was von der Figur zu erkennen war, sah aus, als würde sie ihre Arme um den mageren Kopf schlingen. Das Kinn war erhoben, und blässliche Augen starrten in einer grauenerregend wirkenden Entrückung nach oben, sodass man den Anblick kaum ertragen konnte. Ein ausgemergelter Unterleib mit sichtbaren Geschlechtsteilen verdeutlichte, dass es sich bei dieser Gestalt um eine Frau handelte. Auch die Andeutung dunkler, verschrumpelter Brüste unter hervortretenden Schlüsselbeinknochen wies darauf hin. Und die vielen Fäden, die von dem ungleichmäßig bedeckten Schädel ausgingen, waren möglicherweise lange strohige Haare oder eine Art Perücke.
Die Gestalt schritt aus. Anders konnte man es nicht nennen. Sie machte große Schritte, als wollte sie durch die Wand hindurchgehen oder von ihr herunterkommen. Die Darstellung vermittelte den Eindruck – und das fand Kyle extrem beunruhigend –, dass diese Gestalt in einem Augenblick wilder Ekstase die Mauer durchdrungen hatte, wobei der Abdruck oder eine Spur der sterblichen Überreste irgendwie in diesem eigentlich undurchdringlichen Gestein hängen geblieben war. Es musste dort eingeätzt worden sein. Oder gemalt? Eingeritzt? Rachel Phillips hatte behauptet, diese Bilder würden verblassen. Dieses hier nicht .
Und wieder bemerkte Kyle den Aasgeruch, als stünde er in der Nähe von etwas Totem, das noch nicht ganz vertrocknet war. Dazu kam ein zweiter Gestank, den er als fauliges Wasser identifizierte. Aas und Abwasser. Und … und … er dachte, er müsste niesen … das Gefühl, in seinem Gesicht wären überall staubige Federn. Wie bei einer uralten Daunendecke. Ja, alte Federn aus einem vergilbten Kopfkissen. Vergammelte Kleider, vielleicht. Feuchte, ungewaschene, verrottete Textilien. Es war der gleiche Geruch, den er in der Clarendon Road wahrgenommen hatte.
Seine Gedanken überschlugen sich, suchten nach einer Erklärung: die Sekte hatte eine Abwassergrube ausgehoben und primitive Latrinen gebaut, die uralten Leitungen waren zerborsten, und der Inhalt war hier unter den Boden des Tempels geflossen. Die Figuren waren an die Wände gemalt worden, weil die Sektenmitglieder dem Wahnsinn verfallen waren. Die sind völlig durchgedreht .
Kyle machte Nahaufnahmen von der zweiten Gestalt aus drei verschiedenen Perspektiven. Das Blitzlicht erleuchtete das Ding auf grauenerregende Weise, verstärkt durch die tiefschwarze Dunkelheit in dem Gebäude. Als er auf das Gesicht zoomte und versuchte, den verunstalteten Kopf im Ganzen aufzunehmen, ertönte draußen ein gigantisches Krachen, das die bis dahin herrschende vollkommene Stille schlagartig zerstörte. Es klang, als wäre eine schwere Tür zugeschlagen worden. Mit Kraft und voller Wut. Was denn für eine Tür? Die Häuser hatten doch überhaupt keine Türen, und alle waren leer. Alt und leer, also konnte es nur ein Balken gewesen sein, der irgendwo heruntergefallen war. Ein Stück vom Dach. Ziemlich unsicherer Ort. Gefährlich sogar. Bricht alles zusammen. Ist vergammelt und verflucht.
»He!« schrie er von dem Platz aus, wo er im Dunkeln hockte, und starrte auf die Türöffnung, die vor ihm lag wie ein aufrecht stehendes Rechteck aus grauem Licht in einem schwarzen Rahmen. Und konnte sich erst dazu entschließen, die Beine zu strecken und aufzustehen, als ihm klar wurde, dass er sich vor Schreck zusammengekauert hatte, so als hätte ihn nicht das Geräusch dort draußen verschreckt, sondern die grässliche Gestalt an der Wand mit ihren seltsam gekrümmten Gliedmaßen. Immerhin, das wurde ihm jetzt klar, befand sich dieses Bildnis genau am Kopfende des Tempels, genau da, wo in einer Kirche das
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