Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Füßen zu bewegen schien. Er trat woanders hin und tastete sich weiter voran. Gleichzeitig machte er weiter Standbilder mit seiner Kamera: vom geschwärzten Dach und den fleckigen Wänden.
Das Blitzlicht flammte auf und erhellte den gewölbeartigen Raum für Bruchteile einer Sekunde. Schatten bewegten sich, undeutliche Schemen zuckten vor und zurück, als hätten sie eine heftige Aversion gegen das grelle Licht, und über allem lag dieser Geruch nach Verfall. Er überprüfte die Aufnahmen auf dem Sucherbildschirm, während er den Rückzug antrat, um endlich diesem Gestank und dem Quell seiner unangenehmen Gedanken zu entrinnen, die ihm vorgaukelten, um ihn herum gäbe es irgendwas, das auf seine Anwesenheit reagierte. Dan sollte lieber doch mit Licht arbeiten, wenn er zurück war, egal ob mit oder ohne Bruder Gabriel.
Neben der Türöffnung blieb er stehen und schaute genauer auf einen Teil der Wand, ungefähr einen Meter vom Türrahmen entfernt, durch den er hereingekommen war. Dies war die Stelle, wo der ekelerregende Verwesungsgeruch am stärksten war. Die schwarze Farbe war abgeblättert oder abgezogen worden, und ein Stück blasser Stein war sichtbar, auf dem ein komplexes Fleckenmuster zu erkennen war. Er musste an den Keller im Haus an der Clarendon Road denken und an das, was Rachel Phillips, die
Anwältin, gesagt hatte. Er zog sein Handy heraus und beleuchtete die Stelle mit dem Licht des Displays.
»Das gibt’s doch nicht.«
Das waren keine Flecken, sondern die Umrisse einer aufrecht stehenden Gestalt. Kyle holte sein Feuerzeug aus der Hosentasche und knipste es an, damit er helleres Licht hatte. Die bläulichgelbe Flamme brannte ruhig. Er sah genauer hin.
Konnten Wasserflecken oder die Überreste alter Farbe oder die zufällige Ausbreitung von Schimmel oder Pilzen solche Umrisse haben? Er trat zurück. Die Gestalt wäre ein Meter fünfzig groß gewesen, wenn sie sich nicht gebückt hätte, um ihr nur undeutlich sichtbares Antlitz abzuschirmen, das er lieber nicht so genau erkennen wollte, wie die knochigen Beine und dünnen Finger, letztere erhoben, als wollten sie die Figur vor etwas Grässlichem bewahren.
Nein, das war definitiv kein Fleck. Da waren eindeutig die Umrisse eines Fußes zu erkennen, eines sehr spitzen Fußes. Und da konnte man auch den Brustkorb mit den Rippen sehen und einen eingefallenen Unterleib. Die Schlieren, die wie von vergossenem schwarzen Tee wirkten, wurden von dunkleren Streifen durchzogen, die ganz offensichtlich Knochen und Muskeln waren. Er machte weitere Fotos. Zoomte den hässlich klaffenden Mund mit den langen Zähnen näher heran. Es waren Pferdezähne in einem Maul, dessen Zahnfleisch sehr stark zurückgebildet war.
Er streckte die Hand aus und berührte die Wand. Sie fühlte sich kalt an, irgendwas trat ein klein wenig hervor, war aber dennoch fest mit dem Stein verbunden. Eingeschlossen, versteinert, wie ein Fossil. Er nahm die Hand wieder weg. Versuchte sich einzureden, dass das hier doch bloß ein zufälliges Muster war. Bitte, lass es so sein . Eine Art Turiner Grabtuch, nur eben auf Stein. Nein, das war nicht möglich. Dies war ein von Menschenhand gefertigtes Bild, aber es war durch die Missbildungen absichtlich hässlich gestaltet.
»Dan!«, rief er durch die Türöffnung. »Dan!« Keine Antwort. »Dan!«
Kyle fröstelte, als würde er damit auf die Tatsache reagieren, dass die Sonne inzwischen jenseits des Bauernhofs fast untergegangen war. Er ließ seinen Blick über die anderen Wände schweifen, aber es war zu dunkel, um von hier aus etwas zu erkennen. Warum hatte er keine Taschenlampe mitgenommen? Er war ein wenig durcheinander. Schaute sehnsüchtig nach draußen auf das vergehende Tageslicht, hätte aber niemals zugegeben, dass er verunsichert war. Er sah auf die Uhr: Noch eine Stunde bis zum Einbruch der Dunkelheit. Und sie mussten noch die Fermette von Schwester Katherine filmen und anschließend das ganze Zeug zurück zum Wagen schleppen. Wenn Max das Foto dieser Gestalt an der Wand zu sehen bekam, würde er sie bequatschen, sie müssten noch mal dorthin, um ihren Job korrekt zu Ende zu bringen. Was so vielversprechend begonnen hatte, entglitt ihm jetzt allmählich. »Mist.«
Kyle ging dicht an der Innenseite der vorderen Mauer entlang und hatte es eilig, den länglichen Lichtfleck zu erreichen, der durch das zweite Fenster hereinfiel. Das brennende Feuerzeug hielt er in Brusthöhe dicht vor die Mauer. An manchen Stellen war die Farbe von der
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