Der letzte Tag: Roman (German Edition)
eine ganze Menge Leichen.
Wenn die Angehörigen der Sekte nicht damit beschäftigt waren, inmitten des ständigen Regens in der Normandie der kargen Scholle ein paar Nahrungsmittel abzuringen, verbrachten sie den größten Teil ihrer Zeit hier in diesem Haus, dem Tempel.
Schon bald nach ihrer Ankunft in Frankreich versammelte Schwester Katherine ihre Getreuen an diesem Ort, um die sogenannten Erscheinungen erneut anzurufen. Oder die Heiligen Geister, wie sie hier in Frankreich auch genannt wurden. Hier erklärte sie zum ersten Mal: ›Was ich bin, wünschte ich zu sein, und was ich zu sein wünschte, bin ich.‹ Hier gab sie ihrem Glaubensbekenntnis den letzten Schliff und vollendete das, was Irvine Levine ihren ›bösartigen Narzissmus‹ nannte, etwas, das ihr sehr nützlich war, bis zu dem blutigen Ende des Ganzen im Jahr 1975.
Stellen Sie sich also die bleichen, hageren und bärtigen Gesichter vor, die sich hier versammelten, um die hinterlistige Kultmutter anzubeten, die auf einem Thron saß, der auf einem kleinen Podium stand. Sie zwang sie dazu, ein jämmerliches und geschmackloses Geständnis nach dem anderen abzuliefern, ganz im maoistischen Stil. Hier drin. Endlose Schuldeingeständnisse wurden unter Tränen hervorgebracht, jede noch so peinliche Schwäche und jedes persönliche Geheimnis verzweifelt enthüllt. Die elenden Selbstbezichtigungen nahmen kein Ende. Gleichzeitig litten alle unter extremem Hunger, der sie praktisch entmenschlichte. Und nachdem sie die Mühsal sich ständig wiederholender Selbstanalysen in endlosen Sitzungen ertragen hatten, nachdem ihre Individualität, ihre ganze Identität zerstört war und sie in eine Trance fielen, durch die sie wahrscheinlich in einen Zustand religiöser Ekstase gerieten, öffnete sich ihnen ein Kommunikationskanal, durch den sie mit den Erscheinungen sprechen konnten. Den Heiligen Geistern.
Oder war es nur schlichter Wahnsinn, den sie hier fanden? Handelte es sich nur um euphorische Zustände, als Folge ihrer vollkommenen Erschöpfung? Waren diese Erscheinungen nur Lug und Trug, ein weiteres Werkzeug der Anführerin, um ihrer Kontrollsucht zu frönen? Irvine Levine hat es so beschrieben.«
Kyle fluchte leise vor sich hin, weil Bruder Gabriel nicht auftauchte, den er jetzt dringend brauchte, damit er die Geschichte mit den Erscheinungen ausschmücken konnte. Das war schließlich der eigentliche Grund, warum sie hierhergekommen waren. Also nutzte er die Gelegenheit, um den Ton seiner beiden Ansteck-Mikros zu überprüfen, räusperte sich und fuhr fort: »Es wurde erzählt, dass Schwester Katherine sich hier im Tempel am übelsten auslebte. Hier stellte sie sich einen Kreis engster Vertrauter zusammen und unterwarf sie völlig mithilfe sexueller Enthaltsamkeit und sexueller Erniedrigung. An diesem Ort wurden verheiratete Paare dazu gezwungen, mit anderen zu verkehren, und das im Namen der ›Emanzipation‹. Hier wurden zwischenmenschliche Bande zerschnitten und Freunde einander entfremdet, hier wurde eine Atmosphäre mystischer Erotik aufgebaut. Allerdings galten immer die strikten Grenzen, die Katherine willkürlich setzte, indem sie ihren Anhängern vorschrieb, mit wem sie schlafen beziehungsweise sich fortpflanzen durften und mit wem nicht.
In dieser Umgebung, in der Geißelungen und sogar Vergewaltigungen an der Tagesordnung waren, wurden fünf Kinder geboren. Hier in einer dunklen, schmutzigen Scheune. An einem Ort, der ursprünglich fürs Vieh vorgesehen war. Aber dieser Ort wurde von den hier lebenden Menschen als ein Platz der Hingabe verstanden, auch wenn die Sektenmitglieder tatsächlich wie Vieh gehalten wurden. Warum genau Katherine ihren Anhängern erlaubte, Kinder zur Welt zu bringen, bleibt ein Rätsel. Schwester Katherine, die ehemalige Prostituierte und Bordellmutter, versagte sich selbst jede Liebesbeziehung, hat sich nie einen Liebhaber
genommen. Allen Zeugenaussagen zufolge lebte sie völlig enthaltsam und hegte eine tiefe Abneigung gegen schwangere Frauen. Warum also verlangte diese Frau, die von ihren Anhängern problemlos völlige Enthaltsamkeit hätte einfordern können, dass sie sich eigenartigen Beischlafritualen hingaben, die ganz eindeutig darauf hinausliefen, dass Kinder dabei gezeugt wurden?«
Kyle beendete seine Ausführungen und nahm die Mikrofone ab. Er ging weiter ins Innere des Tempels, um zu prüfen, wo sie die Scheinwerfer am günstigsten aufstellen konnten. Er versank im Boden, der sich plötzlich unter seinen
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