Der letzte Tag: Roman (German Edition)
schiefe Treppe aus dunklem Holz, die auf halber Höhe einmal die Richtung wechselte, führte ins obere Stockwerk.
Kyle schlich ins Haus und baute die Kamera auf, um aus dem Off mit dem Ablesen seines Skripts fortzufahren. Wenn das kein extremes Guerilla-Filmen war, dann gab es so was überhaupt
nicht. Der Akku in der Kamera war nicht mehr sehr voll. Er hatte noch einen Ersatz in seiner Tasche, aber er wollte das jetzt schnell hinter sich bringen, auch wenn er sich lieber keine Gedanken darüber machte, warum eigentlich.
»Dies ist die Fermette von Schwester Katherine. Schon in London hatte sich abgezeichnet, dass die Sektenführerin lieber getrennt von ihren Anhängern residierte. Und das hat sich hier fortgesetzt. Dieses Haus hatte Elektrizität und fließendes Wasser, aber es war dennoch wesentlich primitiver, als es ihr gefiel. Auf dieses Niveau wollte sie nie wieder herabsinken. In Amerika kaufte sie sich später einen großartigen Art-déco-Palast nur für sich allein, der meilenweit entfernt lag von der verlassenen Kupfermine, in der ihre Jünger vom Tempel der Letzten Tage hausten. Vielleicht war dieses Anwesen ja ein Versuch, die kargen Verhältnisse, unter denen sie in Frankreich leben musste, zu vergessen.
Es gibt keine Fotos von der Einrichtung dieses Hauses. Deshalb können wir uns nur auf das verlassen, was ihre damaligen Anhänger Irvine Levine berichtet haben, um uns vorzustellen, wie es hier wohl aussah. Aber hier draußen, im kalten Winter der Normandie, so hieß es, habe Schwester Katherine ihr Faible für antike Möbel, dicke Teppiche und Samtvorhänge entdeckt. Sie war sehr kälteempfindlich, mochte es aber auch nicht, wenn es zu heiß war.
Die luxuriöse Möblierung, die königliche Ausstattung sind lange schon verschwunden. Der Fußboden ist, wie man sehen kann, aus nacktem Zement. An manchen Stellen sind Flecken, die von Öl oder Wasserschäden herrühren könnten.«
In der beginnenden Dunkelheit machte er eine Nahaufnahme von dem einzigen Überbleibsel der damaligen Zeit und improvisierte einige zusätzliche Zeilen: »Es ist doch wirklich erstaunlich, dass dieses Ding hier steht. Die Badewanne von Schwester Katherine ist nach vierzig Jahren immer noch hier. Man fragt sich wirklich, wieso niemand sie mitgenommen hat.«
An den schmutzigen Wänden der Fermette waren keine der grässlichen Bilder zu sehen, die er in der Scheune entdeckt hatte, was ihn sehr erleichterte. Aber auch hier war es unnatürlich still.
»Es ist wirklich eigenartig, aber in diesem Haus herrscht eine besondere Atmosphäre. Irgendwie angereichert, genau wie im Tempel. Man erwartet die ganze Zeit etwas. Hat das Gefühl, jeden Augenblick könnte jemand oder etwas erscheinen. Als wäre hier in diesem Raum, in dem ich stehe, ein ganz bestimmtes Ereignis festgehalten worden. Als wir hier eintrafen, hat Bruder Gabriel uns Ähnliches beschrieben. Er hat sich dann entschieden, die Filmaufnahmen zu verlassen. Die Rückkehr an diesen Ort hat ihn sehr verstört. Dan, der Kameramann, ist bei ihm. Deshalb muss ich von nun an alles allein erledigen.«
Kyle fand die passende Seite seines Skripts und senkte die Stimme, als er weiter ins Mikro sprach. Er war jetzt ziemlich aufgeregt. »Dies ist einer der bedeutendsten Orte in der Geschichte des Kults. In diesem Gebäude, vielleicht sogar hier in diesem Raum, hat Schwester Katherine Das Buch der Hundert Kapitel geschrieben, den theologischen Text, der ihr angeblich von irgendwelchen ›Erscheinungen‹ und von Heiligen Geistern diktiert worden sei. Es ist ein dünnes, größtenteils unlesbares Buch, aber von den Jüngern wurde verlangt, dass sie auf Kommando daraus zitieren konnten. Und dies ist der Ort, an dem sie den Brüdern des Kreuzes, auch ›Die Sieben‹ genannt, die wichtigsten und persönlichsten theologischen Instruktionen gab. Fünf von ihnen versuchten hier, sich ihrer totalen Kontrolle zu entziehen. Auf die fehlgeschlagene Rebellion folgte die Spaltung der Gruppe, ebenfalls hier in diesem Haus, und dann wurde der Tempel der Letzten Tage gegründet – jener Teil der Sekte, der sich dann in Arizona selbst zerstörte. Außerdem, und das ist vielleicht das Wichtigste, war dies der Ort, an dem die letzten verbliebenen Getreuen sich Schwester Katherine bedingungslos unterwarfen und sie als ›lebende Gottheit‹ verehrten.
Sie und die beiden letzten Angehörigen der Sieben, Schwester Gehenna und Schwester Bellona, waren der Kern des 1972 in der zweiten Diaspora in Amerika
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