Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Tausendfüßlern und kleinen Schlangen herumzuzucken schien.
Hinter ihm in seiner Wohnung überflutete helles sommerliches Abendlicht mit einem Mal die Zimmerdecke und strahlte über seine Schultern. »Die sind ja echt stark«, sagte Dan, der die Kiste mit den Lampen von Max ausgepackt hatte, um sich die Langeweile zu vertreiben. Er hockte grinsend neben einer Schreibtischlampe, die das gleiche intensive weiße Licht verströmte, wie Kyle es aus Max’ Wohnung kannte.
Er drehte sich um. »Wenn du dir das noch hundertmal heller vorstellst, dann hast du einen guten Eindruck, wie es bei Max zu Hause aussieht.«
»Ohne Scheiß, Alter, ich hab wirklich das Gefühl, dass es mir schon besser geht. Max hat mir gestern Abend auch solche Lampen per Kurier geschickt, als ich noch nicht daheim war. Eine Nachbarin hat sie angenommen. Drei Lampen. Genau wie deine. Der Typ ist echt klasse.«
»Er hat mir erzählt, sie würden die Seele reinigen. Hast du was gemerkt?«
»Ich hab das Gefühl, dass die dunklen Flecken verschwinden. Wo soll ich die anderen beiden hinstellen, neben das Bett?«
»Nein, um Himmels willen. Da drin zu schlafen, ist schon schwierig genug, da kann ich nicht noch dieses grelle Licht gebrauchen.«
Dan suchte die Wand ab. »Da sind sowieso keine Steckdosen mehr frei. Wo ist die Flasche Jack Daniels?«
»Im Kühlschrank. Mix meinen mit Cola, bitte. Da sind noch zwei Dosen.«
»Mit Eis?«
»Das Eisfach ist im Arsch. Schon seit einer Ewigkeit.«
Dan verließ mit einer der Lampen in der Hand das Zimmer und riss dabei die Plastikfolie von Kabel und Stecker. Kyle drehte sich wieder zum Fenster und musste sich eingestehen, dass die Filmaufnahmen ziemlich packend waren. Es gab kaum Licht, nur das bisschen, das die LED-Lampe spendete, und das genügte nicht, um alles klar und deutlich erscheinen zu lassen, schon gar nicht, wenn man einen Bildausschnitt vergrößerte. Die verfallenen Gebäude, die Dan mit der Standbildkamera fotografiert hatte, und die Aufnahmen der verwilderten Wiese schufen eine Atmosphäre erwartungsvoller Spannung, was genau seine Intention gewesen war. Gabriel sah verschrumpelt aus, wirkte leicht irre, scheu und ängstlich. Dan war es gelungen, das Unbehagen von Bruder Gabriel an diesem Ort in einigen Nahaufnahmen seines schwitzenden, unruhig dreinblickenden Gesichts einzufangen. Seine schmalen Lippen bebten, und er murmelte ständig etwas vor sich hin. Der Typ war total am Ende. Und pleite auch. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt, als bei den Dreharbeiten mitzumachen. In dieser Hinsicht ähnelten sie sich. Vielleicht war es bei Susan das Gleiche gewesen, allerdings war sie nun nicht mehr in der Lage, ihr Honorar auszugeben. Und Max hatte beiden aufgetragen, seine Verbindung zur Sekte geheim zu halten. Susan White war tot. Damit war ein neuer Handlungsstrang aufgetaucht, hatte sich ein neuer Spannungsbogen ergeben: Jetzt war es auch die Geschichte der Unglücksfälle bei den Dreharbeiten zu einer Dokumentation über den Tempel der Letzten Tage. Und daneben musste noch die Doppelzüngigkeit des Produzenten entlarvt werden. Grandios .
Das zweite Interview mit Gabriel im Krankenhausbett nach ihrer Rückkehr aus Amerika würde bestimmt großartig werden. Kyle würde das noch anreichern mit der ernüchternden Nachricht, dass Susan eine Woche nach ihrem Gespräch verstorben war. Und er würde einige Geräusche aus dem Haus in der Clarendon Road mit hineinmischen. Dann Schnitt zurück zu Susans Bemerkung über die »Erscheinungen«. Im Kopf war er die ganze Zeit dabei, das Material zu schneiden und neu zu schneiden, zu dramatisieren und Höhepunkte einzubauen, um deutlich zu machen, wie die Filmemacher nach und nach zu unfreiwilligen Zeugen von unerwarteten und unheimlichen Vorkommnissen geworden waren. Das Material war einfach umwerfend. Sogar seine und Dans Reaktionen waren echt und sahen auch so aus. Diese Angst konnte man nicht vorspielen.
»Kyle! Kyle! Komm schnell her!«
Kyle sprang auf und war in wenigen Sekunden an der Küchentür. Der Kater war noch schneller gewesen und hockte schon vor der Wohnungstür und kratzte daran, bevor Kyle den Kopf in die Küche gestreckt hatte, wo er Dan vor sich sah, der verblüfft und verschreckt zugleich dreinblickte.
»Guck«, sagte Dan und deutete mit dem Kopf zur Tür des Wandschranks, die noch immer offen stand, seit sie zuletzt das Innere gefilmt hatten.
Kyle starrte immer noch Dan an. Spürte einen Kloß im Hals und versuchte, die Angst
Weitere Kostenlose Bücher