Der letzte Tag: Roman (German Edition)
gerichtet.« Conway senkte seine Hand und berührte ganz leicht den zerborstenen Fensterrahmen. »Und da seh ich die Leichen da drin. Fünf Stück, direkt vor mir.«
Der ehemalige Polizist richtete sich auf und betrat das Haus. Dan folgte ihm, und hinter ihm trat Kyle durch die Tür. Eine dicke Schmutzschicht bedeckte die Bodendielen. Das Geräusch von drei Fußpaaren hallte durch den Raum. Zerdrückte Bierdosen waren zu sehen, einige Plastiktüten, und es roch nach Urin. Das Gebäude wurde von einer weißen Holzwand geteilt. Durch eine
Tür und eine offene Durchreiche konnte man in den hinteren Bereich sehen, der völlig im Dunkeln lag.
»Hier drin lagen Matratzen und fünf der Hippies. Sie trugen diese Kutten, die sie auch anhatten, wenn sie in die Stadt kamen. Zwischen ihnen war Blut zu sehen. Zwei knieten, als würden sie beten. Die anderen waren zur Seite gekippt und aufeinander gefallen. Das Blut auf dem Fußboden war dunkel und teilweise geronnen, also waren sie schon eine Weile vor unserer Ankunft getötet worden. Eine Stunde vorher, schätzte ich, vielleicht auch mehr. Ich erinnere mich noch, dass ich versuchte, die einzelnen Leichen im Dunkeln voneinander zu unterscheiden, und da sah ich eine durchgeschnittene Kehle. Der Kopf war nach vorne gekippt, die Augen des Opfers waren geschlossen, aber der Schnitt ging bis zum Ohr.«
Conway atmete tief durch und schüttelte den Kopf. »In einer Reihe, alle fünf nebeneinander. Vier von ihnen hatten Bärte. Und sie schauten alle zur Wand. Als wäre das so arrangiert worden von demjenigen, der sie umgebracht hat. Es sah nicht so aus, als hätten sie sich dagegen gewehrt, dass ihnen die Kehlen durchgeschnitten wurden. Ihre Hände waren nicht gefesselt.«
Conway schloss die Augen und verfiel wieder in Schweigen. Kyle hörte, wie Dan schluckte, und mit einem Mal mochte er diesen alten Mann und fühlte sich schuldig, weil er ihn gezwungen hatte, sich in dem stinkenden verfallenen Haus an diese grauenhaften Dinge zu erinnern.
Schließlich hatte Conway sich wieder gefangen, sah auf und ging auf die Trennwand zu. »Im Hinterzimmer hatten sie gewohnt. Im zweiten Raum. Darin lagen Matratzen. Alte Decken. Bücher. Nicht viel mehr. Ich weiß noch, wie ich versuchte, nicht in die Blutlachen zu treten, denn das war ja jetzt ein Tatort. Wir schlichen also ganz vorsichtig um die Leichen herum in diesen Raum hier, um uns zu vergewissern, dass niemand in dem Gebäude war. So war es auch. Auch im zweiten Raum keine lebende
Seele. Nur die fünf Leichen im Vorderzimmer. Und als ich wieder hierher zurückkam und wir zurück zur Tür gingen, bemerkte ich diesen Geruch. Es war fast so, als hätte ich meinen Geruchssinn eine Weile ausgeschaltet, um mich ganz auf meine Augen und Ohren verlassen zu können, als wir reingingen. Aber als wir wieder zur Tür kamen, sagte ich: ›He, Jimi, riechst du das?‹ Und Jiminez nickte. Dann sagte er: ›Kaputtes Abflussrohr.‹ Mir fiel sofort ein, dass diese Häuser ja gar keine Kanalisation hatten. Aber er hatte recht. Es roch nach Abwasser und nach etwas, das schon viel länger tot war als diese Hippies. Der Gestank kam ja auch nicht von den Opfern. Nein, nein.«
Alle drei waren froh, als sie wieder nach draußen kamen. Der eigenartige Verwesungsgeruch war in dem Buch von Irvine Levine nicht erwähnt worden. Und in dem Moment, als Conway ihn erwähnte, merkte Kyle, wie ihm die Knie weich wurden, und ganz kurz hatte er den Eindruck, er könnte seine Beine nicht mehr spüren. Seine Selbstwahrnehmung schien gestört, als wäre sein Ich vom Wind in die Weite der Sonora-Wüste geweht worden. Er fühlte sich schrecklich verwundbar und zerbrechlich. Das war ein Gefühlszustand, den er normalerweise hatte, wenn ihm alles entglitt. Aber diesmal hatte es nichts mit seinen Schulden zu tun oder mit seinen vergeblichen Versuchen, einen schlecht bezahlten Filmauftrag zu bekommen. Dieses Gefühl wurde verursacht, weil er sich Sorgen um seine Sicherheit machte und sich fragte, ob er mental überhaupt in der Lage war, Enthüllungen wie diese, die Conway ganz beiläufig gemacht hatte, zu verkraften. Kyle warf Dan einen Blick zu und konnte sehen, dass es ihm genauso ging.
Conway wandte sich wieder von der Kamera ab und schaute in die Wüste. Dan ging weiter und filmte ihn nun von der Seite. »Wir wussten nicht, dass auch die Anführerin zu den Opfern gehörte. Das wurde erst bekannt, als die Mordkommission dazukam. Schwester Katherine war die große Gestalt in der
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