Der letzte Tiger
gezimmerten Hauswand fiel etwas Licht. Es musste später Nachmittag sein, das Licht schimmerte rötlich. Unter der Decke über Ly hingen vier tote Wildtauben. Vor einem Altar stand ein kleiner schmaler Mann mit dem Rücken zu Ly und bewegte seinen Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Er trug eine weite dunkle Hose, eine kurze Jacke mit engen, bunt bestickten Ärmeln und um den Bauch eine orangefarbene Schärpe. Die typische Tracht der Hmong in dieser Gegend. An seinen Handgelenken klirrten kleine Glöckchen. Der Altar war mit weißem Papier beklebt, in das Muster geschnitten waren. Von dem Altar aus verliefen dünne Fäden bis unter die Decke. Ly hatte so etwas noch nie gesehen. Der Mann sang leise. Ly lauschte seiner tiefen Stimme. Die Worte verstand er nicht, aber sie beruhigten ihn. Er gab seiner Müdigkeit nach und dämmerte allmählich wieder weg.
Als er die Augen wieder aufschlug, stand der Mann stumm neben seinem Bett und schaute auf ihn herab. Es war jetzt fast dunkel. Schatten lagen auf seinem Gesicht. Trotzdem konnte Ly erkennen, dass seine Haut zerfurcht war und die Augen ungewöhnlich tief in ihren Höhlen lagen. Ly hätte nicht schätzen können, ob er fünfzig oder siebzig Jahre alt war.
»Geht besser?«, fragte der Mann. Sein Vietnamesisch war brüchig. »Bald gut. Ihre Seelen nicht alle angekommen. Hab sie gerufen.«
Ly hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach.
»Pao mein Name.«
»Pham Van Ly.«
»Weiß.« Pao zeigte auf einen Holzblock neben dem Bett. Dort lag neben Lys Mobiltelefon sein Polizeiausweis. Der Mann musste beides aus seiner Hemdtasche herausgenommen haben. Ly suchte in den Augen des Hmong nach dem Misstrauen, das die meisten einem Polizeibeamten entgegenbrachten. Doch da war nichts. Oder er konnte den Blick einfach nicht deuten.
»Ich muss zu Hause anrufen«, sagte Ly und streckte vorsichtig seinen gesunden Arm nach dem Telefon aus.
»Leer«, sagte Pao.
»Kann ich es aufladen?«
»Kein Strom hier.«
Kein Strom – in was für einer abgelegenen Berghütte war er bloß gelandet?, fragte Ly sich. Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb an einem Gewehr hängen, das an einem Nagel neben der Tür hing. Ein Vorderlader. Der Lauf war krumm. Nicht gerade das, was nach einer neuen Lieferung der CIA aussah, dachte Ly. Neben dem Gewehr hing, an einem Rehgeweih, ein Motorradhelm. In der Tür, die immer noch geöffnet war und durch die das wenige letzte Abendlicht fiel, stand jetzt ein vielleicht achtjähriges Mädchen mit von Dreck verschmiertem Gesicht und wild zerzausten Haaren. Rotz lief ihr aus der Nase. Sie trug einen fast bodenlangen weiten Rock und ein löchriges T-Shirt. Das Baby auf ihrem Arm war nackt. Sie stand einfach da und sah Ly an, bis Pao eine knappe Bewegung mit seiner Hand machte und sie wegrannte. Ly hörte, wie sich das Trappeln ihrer nackten Füße auf dem Boden entfernte.
»Ist mein Arm gebrochen?«, fragte Ly.
»Nein. Blau. Die Brust auch«, sagte Pao. Er legte Ly den Arm um die Schulter und zog ihn ein Stück hoch. Der Schmerz trieb Ly die Tränen in die Augen.
Pao setzte sich neben Ly auf die Bettkante. Er tastete Lys Arm ab. Dann öffnete er ihm sein Hemd und legte seine Hände flach auf die Rippen. Ly merkte, wie sein Atem ruhiger wurde.
»Mein Sohn Xang Sie gefunden. Sonst …« Pao verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die nichts Gutes verhieß.
»Hallo«, hörte Ly leise jemanden sagen. Ly hatte den Jungen bislang nicht bemerkt.
Xang stand etwas versteckt hinter einer der beiden Holzsäulen, die den Dachstuhl trugen. Er war ein Teenager mit einem rundlichen Gesicht, was ihn sehr kindlich aussehen ließ.
»Sie lagen im Reisfeld. Das Gesicht im Wasser«, sagte der Junge. Sein Vietnamesisch war besser als das seines Vaters.
»Da war ein Trecker«, sagte Ly. »Er fuhr ohne Licht.« An mehr konnte er sich nicht erinnern.
Pao, der Lys schmerzende Rippen mit einer lilafarbenen Paste einrieb, bis die Haut glühte, zog bei Lys Worten die Luft durch seine zusammengebissenen Zähne.
»Holzfäller. Die sind im Dunkeln unterwegs«, sagte Xang leise.
»Ohne Licht?«, fragte Ly.
»Es ist verboten, das Holz aus dem Wald zu holen. Rosenholz und so«, sagte Xang.
Pao reichte Ly ein Glas mit einer klebrigen Masse, fast wie Honig. Ly trank es. »Bald besser«, hörte er Pao nochsagen, dann war er auf sein Kissen gesunken und eingeschlafen.
*
Als Ly aufwachte, drang von draußen kein Licht mehr herein. Pao, Xang und ein weiterer Mann saßen auf Matten
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