Der letzte Tiger
gesteckt hatte. Es war zerknickt und etwas feucht geworden, aber Truongs Gesicht war zu erkennen. »Haben Sie den Mann schon einmal gesehen?«
Khai warf nur einen flüchtigen Blick auf das Bild und schüttelte den Kopf. Pao dagegen nahm das Foto und hielt es lange in der Hand. »Was ist mit Mann?«, fragte er.
»Er ist tot«, sagte Ly.
Paos dunkle Augen ruhten auf Ly, und Ly meinte, Trauer aus seinem Blick zu lesen. Aber vielleicht irrte er sich auch. In dem flackernden Licht verzerrten sich die Züge der Gesichter.
»Wie wurde er umgebracht?«, fragte Khai.
»Ich habe nicht gesagt, dass er umgebracht wurde.«
Khai lachte. »Ein Kriminalbeamter. Ein toter Mann. Wieso sollten Sie sonst nach ihm fragen?«
»Ich bin nicht als Polizist hier«, sagte Ly. »Er war ein Freund. Und ich glaube, er war vor seinem Tod hier in der Gegend. In Na Cai. Ich will wissen warum.«
»Nie gesehen«, sagte Khai und ging nahtlos dazu über, Anekdoten aus der Armeekaserne zum Besten zu geben. Ly versuchte, nicht hinzuhören. Solche Geschichten riefen bei ihm Erinnerungen an seinen Vater wach, die er nicht mochte. Sein Vater war fast sein ganzes Leben lang Soldat gewesen, und wenn er mal nach Hause gekommen war, hatte er seine Kinder – zumindest seine Söhne – mit militärischer Strenge traktiert. Ly hatte ihn dafür gehasst und, wenn auch mit schlechtem Gewissen, seine Freunde um ihre gefallenen Väter beneidet, die nicht mehr versuchen konnten, aus ihnen Soldaten zu machen.
Während der Ranger noch redete, kuschelte Xang sichunter eine Decke und schlief neben ihnen auf dem Boden ein.
Ly konnte seine Augen auch kaum noch offen halten. Er war froh, als der Ranger endlich aufstand und sich verabschiedete. Von außen drang sofort die Kälte herein. Pao reichte Ly eine Wasserpfeife. Ly drückte das Bambusrohr gegen den Mund, hielt ein brennendes Holzstäbchen an den Tabak und sog tief ein. Das Wasser unten im Rohr blubberte dumpf. Der Rauch kratzte in Lys Lunge. Ly hielt kurz die Luft an und atmete dann langsam aus. Er fühlte sich angenehm benebelt und fragte sich, ob dem Tabak Opium beigemischt war. Er schmeckte bitter und gleichzeitig leicht scharf, und Ly hatte das Gefühl, dass seine Schmerzen nachließen.
*
Am nächsten Morgen fühlte Ly sich schon besser. Nur sein Arm schmerzte noch. Er stand auf, zog seine Hose an und schlüpfte in Sandalen, die neben der Tür standen. Sie waren aus dem Gummi zerschnittener Autoreifen gefertigt. So etwas hatte Ly zuletzt als Kind getragen – zu Kriegszeiten.
Er öffnete die Tür und blinzelte in die Sonne. Vögel zwitscherten, ein Hahn krähte. Der Himmel war strahlend blau. Im Hof stand Pao und hackte Holz zu kleinen Scheiten. Ly trat hinaus und sog die kühle Morgenluft durch die Nase ein. Sie roch frisch, nach Laub und feuchter Erde. Im Gras, das im Hof wuchs, hingen Tautropfen. Ein kleines Hängebauchschwein rannte quiekend zwischen Lys Beinen hindurch.
»Geht gut?«, fragte Pao, der nur kurz aufschaute und dann weiterarbeitete.
»Ja«, sagte Ly und ging ein paar Schritte um das Haus herum. Kilometerweit konnte er über waldbewachsene Bergketten schauen. Die Bäume hatten ein dunkles, sattes Grün. Weiter unten im Tal hingen vereinzelt Nebelfetzen in den Bäumen. Irgendwo da drüben musste Laos sein. Für einen Moment nahm ihn der Anblick dieser Landschaft vollkommen gefangen. Dann drehte er sich nach einem Rascheln um, das aus dem hohen Gras hinter der Hofumzäunung drang, und entdeckte drei kleine Jungen, die ihn mit großen Augen ansahen, wobei sie auf langen Stücken Zuckerrohr herumkauten. Sie trugen nichts als löchrige T-Shirts, und ihre Gesichter waren ebenso von Dreck verschmiert wie das des Mädchens gestern Abend.
»Hallo«, sagte Ly.
Kichernd rannten die Kinder davon.
Mit dem Fuß trat Ly eine leere Blechdose über den Hof und folgte mit den Augen einer Bambusrinne, die den Hof und die angrenzenden Maisfelder mit Wasser versorgte. Die Quelle musste weiter oben am Hang liegen. Hinter dichten Büschen konnte Ly weitere Hmong-Häuser ausmachen.
Hühner pickten in einem Haufen entkernter Maiskolben, die vermutlich noch als Brennstoff dienen würden, nach vergessenen Körnern. In einem Käfig schlich eine Zibetkatze hin und her. Sie hatte dichtes graues Fell und sah gutgenährt aus. Dasselbe galt für die drei Stachelschweine, die Ly in einem aus Beton gegossenen Schweinestall entdeckte. Bei Stachelschweinen war er sich nicht sicher, aber Zibetkatzen standen auf jeden
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