Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
Vom Netzwerk:
statt. Der Lehrer ist weg. Hat ihm wohl nicht gefallen bei uns.« Er sagte das, als sei es eine persönliche Beleidigung. »Einfach hinten über den Schulhof, die dritte Tür, das war seine Wohnung. Steht offen.«
    *
    Ly betrat die Behausung der Dorfschule. Es wunderte ihn nicht, dass der Lehrer seine Stelle hingeworfen hatte: ein Stockbett, eine Glühbirne unter der Decke, Tisch, Thermoskanne und Wasserkocher. Immerhin könnte Ly sich eine Instantsuppe aufbrühen.
    *
    Ly streckte sich auf der unteren Matratze des Stockbettes aus. Sein Arm pochte unter dem Verband. Zwar hatte Pao ihm etwas von dieser lilafarbenen Paste mitgegeben, aber Ly hatte jetzt keine Lust, den Verband abzuwickeln und sie aufzutragen. Die Fahrt den Berg hinunter hatte ihn erschöpft. Er wollte sich einfach nur etwas ausruhen, bevor er sich in diesem Nest genauer umschaute. Er starrte auf die stockige Matratze über sich, als jemand die Tür aufstieß und mit schwerem Schritt ins Zimmer trat. Was Ly aus seiner liegenden Position sah, waren grüne Hosenbeine und schwarze, glänzend polierte Lederschuhe. Ly fluchte leise. Das konnte nur ein Polizist sein.
    Er setzte sich auf, den Kopf gebeugt, um nicht an das obere Bettgestell zu stoßen.
    Der Polizist, der jetzt vor ihm stand und auf ihn herabschaute, war ein kleiner dicker Mann mit rotem Gesicht und einem fleischigen Hals, der über den Kragen der eng geknöpften Uniformjacke quoll. Wahrscheinlich war er in Lys Alter, sah aber viel älter aus, wie Ly mit Genugtuung feststellte.
    »Wie lange wollen Sie bei uns bleiben?« Er betonte jede Silbe einzeln. Es hörte sich wie ein Bellen an.
    »Ich weiß noch nicht«, sagte Ly.
    »Und was wollen Sie bei uns? Eeh?«
    Ly war schon bei dem Tankwart aufgefallen, dass er immer von »uns« gesprochen hatte anstatt von Na Cai. Und dieses »eeh« schien auch so eine schlechte Sitte hier oben zu sein.
    »Ich mag die Berge«, erwiderte Ly.
    Der Mann sah ihn aus kleinen, geröteten Augen an. »Ich hab gehört, Sie waren oben bei den Hmong. Bei Pao, dem alten Schamanen. Hat sicher Ihre Seelen zusammengerufen, was? Aberglaube, sag ich Ihnen. Alles Aberglaube.« Er gab einen grunzenden Laut von sich.
    »Schamane?«, fragte Ly. Das hatte Pao nicht erwähnt.
    »Haben Sie nicht überall diese Fäden gesehen? Seine Verbindungen zur Geisterwelt.« Er lachte dumpf.
    Der Kerl ging Ly auf die Nerven.
    »Lassen Sie sich von diesen Hmong bloß nicht an der Nase rumführen«, sagte der Polizist. »Die tun so arm. Aber ich sag Ihnen, die haben Geld. Mehr als wir alle zusammen. Mit Drogen handeln die. Marschieren wie sie wollen über die grüne Grenze nach Laos. Verdammtes Pack. Die haben keine Angst vor nichts, nicht mal vor der Polizei. Da muss man die schon erst so richtig verschrecken.« Erstockte und wechselte dann, ohne Atem zu holen, das Thema, so als seien ihm da eben die falschen Worte herausgerutscht. »Sie hätten sich melden müssen.«
    »Gibt es bei den Hmong eine Polizeistation?« Ly bemühte sich, möglichst gelangweilt zu klingen. Was für eine Idee hierherzukommen! Wahrscheinlich war Truong nie hier gewesen und die Markierung auf der Landkarte nichts als eine alte Kritzelei. Und diesen Dorfpolizisten nach Truong zu fragen, würde er tunlichst vermeiden. Das Einzige, was er wollte, war, ihn loszuwerden.
    »Sie hätten sich bei mir melden müssen. Hier im Ort«, sagte der Polizist.
    »Ich war verletzt.«
    »Dann hätte Pao kommen müssen. Sie können nicht einfach irgendwo nächtigen, wo es Ihnen beliebt.« Der Polizist streckte die offene Hand aus. »Papiere.«
    Ly reichte ihm seinen Ausweis.
    Der Mann studierte ihn lange, wobei er ihn sich nah vor die Augen hielt. Schließlich räusperte er sich und sagte, etwas weniger barsch als vorher: »Wieso haben Sie das nicht gleich gesagt? Von der Hanoier Polizei, eeh? Beruflich unterwegs?«
    »Privat.«
    Der Mann hielt Ly die Hand entgegen. Sie fühlte sich feucht und speckig an. Ly empfand regelrechten Ekel. Schnell zog er seine Hand zurück und versuchte, sie unauffällig an der Bettdecke abzuwischen.
    »Ich bin Hauptwachtmeister An Phan. Melden Sie sich bei mir, bevor Sie uns wieder verlassen«, sagte er und drückte Ly eine Visitenkarte in die Hand. Die Karte war blau, mit roter Schrift und parfümiert. Vor zehn Jahrenwäre so eine Karte modern gewesen, jetzt ließ sie Ly eher an einen Bordellbesitzer als an einen Hauptwachtmeister denken.
    *
    Ly ärgerte sich. Wieso hatte er nicht seinen normalen Ausweis statt des

Weitere Kostenlose Bücher