Der letzte Tiger
Motor vom Hof.
*
Das Haus der Baronin lag abseits der Hauptstraße hinter einem Bambushain. Es war ungewöhnlich groß. Es hatte einen fünfstöckigen Haupttrakt und zwei leicht konkav gewölbte, dreistöckige Seitenflügel. Die Fassade war in einem dunklen Rot gestrichen, von kleinen Mauervorsprüngen ragten Türmchen empor, das Vordach zum Eingang wurde von Säulen getragen. In der Einfahrt standen mehrere Motorräder und Geländewagen.
Ly klopfte mit dem metallenen Knauf auf den schmiedeeisernen Löwenkopf, der statt einer Klingel an der Tür angebracht war. Sofort wurde die Tür aufgerissen, als habe jemand dahinter gelauert.
Ly machte automatisch einen Schritt zurück.
»Sie?«, fragte Bang. Es war der Junge von der Grenze, der die Tür aufgerissen hatte. Er trug jetzt eine lange Hose, aber immer noch dasselbe rote Trikot. Er starrte Ly an. »Sie sind also der Kommissar, von dem alle reden?«
Ly hatte es befürchtet. »Reden alle von mir?«
Bang nickte.
»Du wohnst hier?«, fragte Ly.
»Nein. Mein Vater ist da. Und ich bin mitgekommen, wegen des Kommissars. Also, Ihretwegen. Wieso haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie das sind?«
»Ich wusste nicht, dass es wichtig ist.«
Bang sah Ly mit glühenden Wangen an.
»Willst du mich nicht reinlassen?«, fragte Ly.
Hastig zog Bang die Tür ein Stück weiter auf und trat zur Seite. Aus dem oberen Stock tönte laute Musik. Der Eingangsbereich war eine Halle mit Galerieempore. In einer mit chinesischen Schriftzeichen verzierten Bodenvase standen langstielige weiße Lilien, wo auch immer diese Baronin sie um diese Jahreszeit herhatte. Die Blumen verströmten einen starken Duft. Der Boden war aus massivem dunklen Parkett, es war sicher kein billiges Holz. Ly dachte unwillkürlich an die Holzwilderer, die ihn angefahren hatten.
»Haben Sie so was schon mal gesehen?« Bang zeigte zur Decke. Sie war gut sechs Meter hoch und über die gesamte Fläche bemalt: Delphine, die durch aufschäumende Wellen sprangen. Auf einem der Delphine ritt eine Frau mit langen blonden Haaren und nackter Brust. »Die Baronin hat es aus einem Buch über Europa. Schön, oder?«
»Ganz toll«, sagte Ly wenig überzeugend. Er mochte die Dinge lieber schlicht. »Wieso eigentlich Baronin?«
»Weiß ich nicht genau. Vielleicht wegen des Hauses? Sieht doch ein bisschen wie ein Schloss aus. Und …«
»Und?«
»Sie hat Geld. Sie will sogar eine neue Schule bauen, mit Computern. Sie ist deshalb ziemlich beliebt«, sagteBang und führte Ly die Treppe hinauf. Ly ließ seine Hand über das Holzgeländer gleiten. Es war glatt und lag gut unter der Hand.
»Wie ist ihr richtiger Name?«, fragte Ly.
»Le Thi Phuong, aber nennen Sie sie ruhig Baronin, das mag sie«, flüsterte Bang. Und bevor er die Tür zu dem Zimmer öffnete, aus dem die Musik kam, fügte er leise, fast flehentlich hinzu: »Verraten Sie bitte nicht, dass wir uns schon kennen! Ja?«
Es war schon viel geraucht worden in dem Raum. Mehrere Männer fläzten sich auf dem Sofa und in Sesseln. Sie alle trugen dunkle Anzüge. Vor ihnen hing ein Flachbildschirm, der fast über die ganze Wand reichte. Eine Frau im traditionellen ao dai spazierte durch das Bild, darunter lief der Liedtext. Hanoi mua thu, Hanoi … – Hanoi im Herbst, Hanoi …
Es war Hauptwachtmeister An Phan, der mitsang, das Mikrophon fast im Mund. Seine Stimme dröhnte blechern aus den Lautsprechern. Hanoi mua thu, Hanoi … Die anderen Männer redeten gegen den Gesang an, so gut es ging. Doch kaum hatte Ly den Raum betreten, verstummten sie.
Eine Frau, die einzige anwesende, kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Sie war groß und korpulent, mit einem runden Gesicht, breiten Wangenknochen und einem festen Dutt im Nacken. Ly schätzte sie auf Anfang sechzig. Ihre Brauen waren gezupft und halbmondförmig nachgezogen. Sie trug ein schwarzes Samtkleid im chinesischen Stil, mit langen engen Armen und Stehkragen, dazu dunkelgrüne Jadereifen um die Handgelenke und feinegoldene Ohrstecker. Ihre manikürten Fingernägel waren in einem dunklen Rot lackiert.
»Herr Kommissar, wir haben schon auf Sie gewartet.«
Ly fürchtete, sie würde ihn gleich an ihren großen Busen pressen. Doch sie griff nur nach seinen Händen und drückte sie fest. »Schön, dass Sie da sind.«
»Danke«, sagte Ly und schob ein »Baronin« hinterher.
Auf diese Anrede hin lachte sie, es war ein tiefes warmes Lachen.
»Seien Sie willkommen. Haben Sie schon gegessen?«
»Das Angebot in Na Cai ist
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