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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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Polizeiausweises mitgenommen. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, und jeder in der Gegend würde wissen, dass er Kommissar der Hanoier Polizei war. Und dann wäre er alles andere als ein anonymer Reisender. Er musste sich vorher etwas umhören. Er stand auf und wusch sich im Schulhof an einem Wasserhahn das Gesicht. Den Hahn schien lange keiner mehr aufgedreht zu haben. Es dauerte Minuten, bis das rostig aussehende und modrig riechende Wasser klar wurde.
    Ly wollte am Grenzposten anfangen, der hier, wie die Zoodirektorin gesagt hatte, vor einigen Jahren eröffnet worden war. Er fuhr die Hauptstraße Richtung Westen hinunter. Ein Mann mit einer roten Plastikschüssel in den Händen stand am Straßenrand, holte aus und traf das Vorderrad von Lys Vespa mit seiner Seifenlauge. Ly bremste. »Passen Sie doch auf«, schimpfte er. Der Mann sah ihn nur teilnahmslos an. Verfluchtes Kaff.
    Laut der neuen Karte, die Ly sich in Hanoi noch schnell gekauft hatte, lag der Grenzübergang nach Laos etwa zwanzig Kilometer von Na Cai entfernt.
    Hinter dem Ortsausgang war die Straße nicht mehr asphaltiert, und die Hänge seitlich des Weges waren weitgehend abgeholzt. Nur vereinzelt wuchsen kleinere Bäume, ansonsten war da nichts als Gras und nackter Boden. Die rostbraune Erde gab die über den Vormittag angesammelteWärme ab. Mehrmals musste Ly kleineren Erdrutschen ausweichen, die Sand und Geröll auf die Straße geschoben hatten.
    Er überholte eine Hmong-Frau mit einer Kiepe voll Feuerholz auf dem Rücken. Sie lief barfuß. Ihr weiter, buntgemusterter Rock wippte mit jedem ihrer Schritte. Ein alter ostdeutscher IFA-Laster, der an Ly vorbeifuhr, hinterließ eine Staubwolke und den Geruch nach billigem Diesel.
    Dunkle Wolkenmassen zogen auf. Der Wind trieb sie schnell heran. Aus der Ferne war schon Donnergrollen zu vernehmen, und noch bevor Ly am Grenzübergang ankam, fing es an zu regnen. Innerhalb von Minuten verwandelte die Straße sich in eine Schlammpiste. Ly gab Gas, um nicht stecken zu bleiben. Doch die Räder drehten durch. Er stieg ab und schob den letzten Kilometer. Sein Arm schmerzte wieder unter der Anstrengung, und seine Füße versanken knöcheltief im Schlamm.
    Das Grenzgebäude war eine kleine Hütte neben einem offenstehenden Schlagbaum. Etwa dreihundert Meter weiter auf laotischer Seite stand ein identischer Unterstand. Da hatte die vietnamesisch-laotische Freundschaft ja mal richtig gefruchtet, dachte Ly. Grenzhütten aus ein und demselben Guss.
    »Bei dem Regen kommen Sie drüben nicht weit. Da ist die Straße noch schlechter«, rief jemand in Lys Rücken.
    Ly drehte sich um. In der offenen Tür des Grenzhäuschens stand ein Junge und winkte ihn herein. Er war etwa fünfzehn Jahre, vielleicht auch etwas älter. Er trug Shorts und das rote Fußballtrikot von Arsenal London, das Lys Sohn Duc sich auch dringend wünschte.
    In der Hütte war es nicht warm, aber doch besser als draußen. Ly setzte sich auf einen der drei Holzstühle, die es gab. Unter der Decke baumelte eine Glühbirne. Auf dem Fenstersims standen eine Gipsbüste von Ho Chi Minh und eine mit Sand gefüllte Keramikschale, in der abgebrannte Räucherstäbchen steckten. Der Regen prasselte auf das Dach, und Wasser tropfte durch die Decke in eine Emailleschale auf dem Boden.
    »Ich heiße Bang. Ich halte hier die Stellung«, sagte der Junge, salutierte und grinste gleichzeitig, wobei ein schiefer Schneidezahn zum Vorschein kam. Er reichte Ly eine Decke. »Mein Vater ist hier der Chef vom Grenzposten.«
    »Und du arbeitest auch schon?«
    »Nee, ich bin noch in der Schule.« Der Junge zog eine Schnute. »Aber manchmal helfe ich aus.«
    »Willst du auch Grenzer werden?«
    »Niemals.« Der Junge schüttelte heftig den Kopf. »Kein Mensch braucht einen Grenzposten. So viel Wald hier, da kann jeder rüber, wie er Lust hat.«
    Ly steckte sich eine Thang Long an und schaute durch die offene Tür in den Regen. Eine große Sau trottete am Schlagbaum vorbei nach Laos hinüber. Ihre Ferkel versuchten, Schritt zu halten. Ihnen schien der Regen nichts auszumachen.
    »Sehen Sie, echt ein blöder Job«, sagte der Junge. »Nicht mal die Schweine respektieren die Staatsgrenze.«
    Ly musste lachen.
    »Ich will nach Hanoi«, sagte Bang. »Vielleicht auch Ho-Chi-Minh-Stadt. Auf die Polizeiakademie.« Seine Augen glitzerten.
    Ly hoffte für ihn, dass er es in die Stadt schaffte. Erschien ein aufgeweckter Junge zu sein. Die Idee mit der Polizeiakademie fand er dagegen

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