Der letzte Tiger
mit missbilligendem Blick zu ihm herüber. »Du solltest nicht so viel trinken«, sagte sie und holte das Tablett mit dem Abendessen aus der kleinen Küche im Vorraum.
Thuys Bemerkung versetzte Ly einen Stich. Konnte sie ihn nicht einfach mal nett begrüßen? Er stellte seine Tasche ab und setzte sich zu seinen Kindern auf den Boden.
»Guck mal«, schrie Duc und riss den Mund auf.
Er hatte schon wieder einen Zahn verloren. Ly wuschelte seinem Sohn mit der Hand durch die Haare, und Duc drückte seinen Kopf in Lys Bauch.
»Wie war es denn?«, fragte Huong.
»Hast du was mitgebracht?«, fuhr Duc dazwischen.
»Da gab’s nichts«, sagte Ly.
»Auch keinen Handyempfang?«, fragte Thuy. »Du hättest ruhig mal anrufen können.«
»Thuy, es ging nicht«, sagte er mit Nachdruck. »Mein Akku war leer.«
»Ausreden hast du immer.« Mit einem Knall stellte Thuy das Tablett mit dem Abendessen auf dem Boden ab.
»Müsst ihr euch jetzt streiten?«, fragte Huong. Thuy warf ihr einen mahnenden Blick zu.
Manchmal wünschte Ly sich, er könnte einfach gehen. Aber eine Scheidung kam nicht in Frage. Das war gesellschaftlich verpönt. Und außerdem, auch wenn er sich in ihrer Beziehung manchmal furchtbar einsam fühlte, war es doch besser, als ganz alleine dazustehen.
Sie setzten sich auf die Reisstrohmatte auf dem Boden, das große runde Aluminiumtablett mit den Speisen zwischen sich. Gebratener Reis, Mango mit Shrimps und eingelegte Babyauberginen. Huong verteilte Essschälchen und Stäbchen. Ly hatte Hunger, aber der Appetit war ihm vergangen. Er stocherte nur im Essen herum.
Sobald Huong aufgegessen hatte, stand sie auf. »Ich bin noch mal weg«, sagte sie, schlüpfte in ihre Sandalen und war schon aus der Tür.
»Komm nicht so spät«, rief Thuy ihr nach.
»Los, Duc, hol dir ein Eis.« Ly drückte ihm zwanzigtausend Dong in die Hand.
»Aber fang vorher deinen Hamster ein«, sagte Thuy.
Duc griff das Tier, das auf dem Bett saß und sich Sonnenblumenkerne in die Backentaschen stopfte, steckte es in seinen Käfig und rannte hinter seiner Schwester her.
»So geht das nicht weiter«, sagte Thuy, als sie alleine waren. Sie stellte die Essschälchen aufeinander und trug sie zum Spülbecken. »Das ist doch keine Ehe mehr.«
»Das liegt ja nun nicht nur an mir«, sagte Ly, konnte aber nicht anders, als sie erschrocken anzuschauen. War sie es, die irgendwann gehen würde?
»Du bist kaum zu Hause«, fuhr Thuy ihn in barschem Ton an.
»Du doch auch nicht. Du reist andauernd mit irgendwelchen Touristen durchs Land.«
Sie lachte gereizt auf. »Wir brauchen das Geld. Ich wär auch lieber mehr zu Hause. Aber … ach, vergiss es.« Sie fuhr mit der Hand durch die Luft.
Wieder das alte Thema, dachte Ly. Sein Staatsgehalt reichte gerade mal aus, um das Nötigste des alltäglichen Lebens zu bezahlen. »Soll ich mich schmieren lassen wie all die anderen? Willst du das?«, fragte er.
»Ich will jemanden, der für mich da ist.«
Ly zog seine Stirn in Falten. Was sollte das nun schon wieder?
»Du interessierst dich doch nur für deine Arbeit. Und wenn du frei hast, gehst du zu Minh ins bia hoi .«
Ly schloss für einen Moment die Augen, dann sagte er: »Es geht hier gerade um Truong. Er war mein Freund. Deshalb war ich oben in den Bergen.«
»Es ist doch nicht nur jetzt, es ist immer so.«
»Und, was willst du ändern?«, fragte er matt. Sie würden jetzt diskutieren und diskutieren, und nichts käme dabei heraus. Das kannte er schon zur Genüge.
»Umarme mich doch einfach mal«, sagte Thuy leise. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Ly sah sie überrascht an. Das hatte er jetzt nicht erwartet, weder die Tränen noch diesen letzten Satz. Er haderte kurz, dann streckte er vorsichtig die Hand nach ihr aus, zog sie zu sich heran und wischte mit den Fingern die Tränen aus ihrem Gesicht. Ihre Haut fühlte sich weich an. Wie lange hatte er sie schon nicht mehr berührt? Er legte ihr seinen gesunden Arm um den Rücken, drückte sie, sein Gesicht in ihren Haaren. Er spürte, wie sein Hemd nass wurde von ihren Tränen.
In dieser Nacht schliefen sie miteinander. Das erste Mal seit einer Ewigkeit.
*
Ein nicht enden wollendes Klingeln riss Ly am frühen Morgen aus dem Schlaf. Er tastete nach seinem Telefon und bemerkte dabei ein seltsam taubes Gefühl in den Fingern seines verletzten Arms.
»Hallo?«, fragte er in den Hörer.
»Wir waren in der Wohnung.« Der Anrufer sprach atemlos. Es war Dang. Ly fragte sich, wann sein Kollege von
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