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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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der Spurensicherung bloß immer aufstand. Es war nicht das erste Mal, dass er ihn aus dem Bett holte.
    »Welche Wohnung?« Ly rieb sich die Augen. Er war immer noch ganz benommen vom Schlaf.
    »Von deinem Freund Truong. Deine Assistentin hat ja nicht lockergelassen.«
    Mit einem Ruck setzte Ly sich auf. Für solche Dinge liebte er Lan. »Und?«
    »Dieser Kühlschrank«, sagte Dang. »Das ist ja ein uraltes Teil. Dein Freund hätte sich früher oder später sowieso einen Stromschlag geholt. Das Ding ist nicht mal geerdet.«
    »Dang, komm zur Sache.« Lys Geduld war um diese Uhrzeit noch begrenzter als sonst.
    »’Tschuldige. Eigentlich wollte ich sagen, vermutlich hast du recht.« Hier machte Dang eine Pause, und Ly hörte, wie er Papiere umblätterte. »Also, ich glaube, da hat wirklich jemand nachgeholfen.«
    Dang fasste für Ly die Fakten zusammen. Das Kabel des Kühlschrankes war an einer Stelle aufgeritzt, und die defekte Stelle muss bei dem Hochwasser im Wasser gehangen haben. Das Wasser stand damit unter Strom, sobald der Stromschalter umgelegt wurde. Und da nichts geerdet oder irgendwie abgesichert war, hatte auch nichts den Stromkreis unterbrochen. Truong hatte dann vermutlich seine Schuhe vor der Tür ausgezogen und war barfuß – und ahnungslos – in das aufgeladene Wasser getreten.
    An der Wand, die bei dem Hochwasser Feuchtigkeit gezogen hatte, hatte Dang einen Handabdruck sichern können, genau unterhalb des Stromkastens, der hoch über der Tür hing. Die Fingerabdrücke der Hand seien alle gut erkennbar. Dang meinte, dass sich vermutlich jemand, der den Stromschalter umgelegt hatte, an der Wand abgestützt hatte.
    Am Stromkasten selbst gab es dagegen nicht einen Fingerabdruck, woraus Dang schloss, dass dort jemand mit einem Tuch drübergegangen war.
    »Der Abdruck an der Wand ist auf jeden Fall nicht von Truong«, sagte Dang.
    »Von wem dann?«
    »Tja, das musst du rausfinden. In unserer Datenbank habe ich nichts Passendes gefunden.«
    Dang fügte noch an, dass der vermeintliche Mörder wohl noch einmal in der Wohnung gewesen war, um den Strom wieder auszustellen. Außerdem war die Wohnungstür geschlossen gewesen, was Truong, wenn er einmal in das Wasser getreten wäre, nicht mehr selbst hätte tun können. Vielleicht hatte der Täter aber auch einfach so lange in der Wohnung gewartet, bis Truong tot war. Die Vorstellung ließ Ly einen Schauder über den Rücken fahren.
    »Wieso hat der Mörder keinen Schlag bekommen?«, fragte Ly. »Er muss doch auch in das aufgeladene Wasser getreten sein.«
    »Hm, keine Ahnung«, sagte Dang und räusperte sich. »Vielleicht hat er einfach ein paar dichte Gummistiefel getragen.«
    Natürlich, dachte Ly. Das hatte diese Tee-Frau im Wohnblock doch sogar erwähnt.
    Jetzt hatte er endlich etwas in der Hand, mit dem er zum Parteikommissar gehen konnte.
    *
    Ly drückte Thuy einen Kuss auf die Wange und stand auf. Thuy lächelte im Schlaf. Wie schön wäre es gewesen, den Morgen mit ihr zu verbringen. Doch der Gedanke an den Inhalt des Telefonats mit Dang vertrieb diesen Wunsch ebenso schnell, wie er gekommen war.
    Vorsichtig stieg Ly über Huong und Duc hinweg, die eingerollt in ihre Decken auf der Matte auf dem Boden schliefen, und ging hinunter in den Hof. Seine alte Tante Thoa, die auch bei ihnen im Haus wohnte, saß auf einem Hocker. In den Händen hielt sie eine Schale Reisbrei, ihre Kiefer mahlten. Ly strich ihr über den Arm, ohne dass sie auf seine Berührung reagierte. Sie lebte schon lange in ihrer eigenen Welt.
    Ly duschte kalt. Um seinen Arm hatte er eine Plastiktüte geknotet. Den Duschkopf musste er mit der Hand halten. Er hatte noch immer keine neue Halterung angebracht. Die alte war schon vor Monaten aus der Wand gebrochen. Er schloss die Augen, ließ sich das Wasser über das Gesicht laufen und versuchte sich die nächsten Schritte gedanklich zurechtzulegen. Vor allem musste er den Parteikommissar überzeugen, dass Truongs Tod kein Unfall gewesen war. Aber noch war sein Chef nicht im Präsidium. Es blieb ihm also Zeit, zum Arzt zu fahren. Das taube Gefühl in seinen Fingern, das er seit dem Aufwachen verspürte, hatte immer noch nicht nachgelassen und begann ihn zu beunruhigen.
    *
    Keine Wolke war am Himmel zu sehen, und obwohl es noch so früh war, war es schon heiß. Ly genoss die warme Luft auf der Haut.
    Die Gittertür zu Doktor Songs Praxis war zugezogen. Ein grauhaariger Mann im Schlafanzug stand auf dem Gehweg und hängte mit einer langen Stange

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