Der letzte Tiger
sind?«
»Import-Export.«
»Lohnend?«, fragte Ly.
Sie lächelte. »Äußerst lohnend. Die Laoten haben großen Nachholbedarf. Reiskocher, Plastikwaren, Spielzeug. Die brauchen alles.« Und nach einer kleinen Pause fragte sie: »Und Sie, was führt Sie zu uns?«
»Die Berge, ich musste einfach mal ein paar Tage raus.«
Sie nickte mit einem Lächeln, das Ly verriet, dass sie ihm nicht glaubte. Er überlegte, ob er ihr Truongs Foto zeigen sollte. Aber er konnte das Gefühl nicht loswerden, dass sie hier alle zusammengekommen waren, nur um herauszufinden, weshalb er hier war. Er hielt es für besser, es ihnen vorerst nicht zu verraten.
»Kommen Sie, noch ein Lied, wir singen gemeinsam«, sagte die Baronin. Sie stellte sich so dicht neben ihn, dass sie sich das Mikrophon teilen konnten. Nach einem weiteren Bier musste Ly auch noch ein drittes und viertes Mal singen.
Es kam ihm so vor, als ließen die Männer den gesamten Abend die Blicke nicht von ihm. Gleichzeitig wechseltekeiner von ihnen mehr als die nötigsten Höflichkeitsfloskeln mit ihm. Nur der Vorstand des Dorfkomitees, ein gewisser Vu Van Dam, begegnete Ly etwas offener. Sein Dialekt verriet, dass er nicht aus der Gegend, sondern vermutlich aus Ha Tinh in Mittelvietnam stammte. Ly war neugierig, wie dieser noch relativ junge Mann hier oben im Norden Vorstand des Dorfkomitees geworden war. Doch seiner Frage danach wich der Mann aus und versuchte stattdessen, Ly in ein Gespräch über Politik zu verwickeln, ein Thema, auf das sich Ly mit Fremden grundsätzlich nicht einließ. Nicht dass er nie seinen Unmut äußerte über dieses System, das seiner Ansicht nach vor lauter Korruption und Dekadenz in den eigenen Reihen mit den Werten des Sozialismus nur noch wenig zu tun hatte. Aber das sagte er eben nicht Fremden gegenüber. Zu schnell konnte so etwas gegen einen verwendet werden.
Es war noch nicht allzu spät, als Ly aufstand. Er wollte die Situation nicht ausreizen.
Noch auf der Straße spürte er die Blicke in seinem Rücken.
*
Es war eine rabenschwarze Nacht ohne einen einzigen Stern am Himmel. Und es war kalt. Zurück in seinem Schulraum merkte Ly sofort, dass der Boden nass war. Das Licht einzuschalten wagte er nicht. Er wollte nicht auch noch einem Stromschlag erliegen. Er zündete ein Streichholz an, um sehen zu können. Eine dreckige Brühe überzog den Boden.
*
Ein Schlag gegen den Rücken riss Ly aus dem Schlaf. Er fühlte sich wie gelähmt. Er hatte sich die ganze Nacht hin und her gewälzt, geschwitzt, gefroren und wirr geträumt.
»Kommissar, wachen Sie auf«, flüsterte eine Stimme. Langsam öffnete er die Augen. Neben ihm stand jemand und rüttelte ihn. »Los doch.«
Ly brauchte eine Weile, bis er ihn erkannte. Es war Khai, der Ranger.
»Sie waren bei der Baronin?«, fragte Khai.
»Sie wecken mich mitten in der Nacht, um mich das zu fragen?«
Der Ranger lachte leise. »Fahren Sie zurück nach Hanoi. Man mag es hier nicht, wenn Fremde sich einmischen.«
»Worein einmischen?«
»Hauen Sie ab«, zischte Khai.
»Nicht bevor mir irgendjemand sagt, was mein Freund hier wollte«, entgegnete Ly.
Das Weiß in Khais Augen funkelte in dem wenigen Licht, das das Morgengrauen durch die offenstehende Tür schickte. »Lassen Sie Pao in Ruhe. Er hat schon einen Sohn verloren.«
Bevor Ly fragen konnte, was mit Paos Sohn passiert war, hatte Khai sich umgedreht und war aus dem Raum geeilt.
Ly sprang auf. »Khai!«, rief er und rannte ein Stück in die Nacht. Doch er sah den Ranger nicht mehr. Er hörte nur noch Schritte auf Kies, die sich schnell entfernten.
*
Ly war todmüde, konnte aber auf der durchgelegenen Pritsche nicht mehr einschlafen. Sein Rücken schmerzte. Sobald es hell war, stand er auf. Zu gerne hätte er jetzt einen starken Kaffee gehabt. Aber den würde er in diesem Kaff sowieso nicht bekommen. Also machte er sich direkt auf den Weg zu Pao. Er wollte ihn nach seinem Sohn fragen, von dem der Ranger gesprochen hatte. Außerdem wurde er das Gefühl nicht los, dass Pao Truong auf dem Foto erkannt hatte.
Auf der Dorfstraße war weit und breit kein Mensch zu sehen, trotzdem fühlte Ly sich beobachtet. Hinter dem Ortsausgang nahm er den Pfad den Berg hinauf. Der Nebel hing niedrig über den Maisfeldern. Die Luft war feucht und kühl. Trotzdem begann Ly schnell zu schwitzen, als er aufstieg. Er fragte sich, ob Khai ihm in der Nacht drohen oder ihn warnen wollte. Er konnte es beim besten Willen nicht sagen. Auf jeden Fall hatte ihn
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