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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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geschlichen.«
    *
    Ly hatte nichts dagegen zurückzufahren. Sosehr er auch die Landschaft hier oben mochte, in Provinzorten wie diesem Na Cai fühlte er sich elendig verloren.
    Zum Fahren nahm er seinen Arm wieder aus der Schlinge. Bis nach Moc Chau an der Hauptstraße Nummer 6 fuhr er in einem Stück durch. Doch bis dahin schmerzte sein Arm wieder so sehr, dass er kaum noch den Lenker halten konnte. Er hielt am Straßenrand und wartete auf einen Bus Richtung Hanoi.
    *
    »Ziehen, ziehen, nein, höher, jetzt …!« Mehrmals rutschte das Seil ab, bis die drei jungen Passagiere, die der Busfahrer um Hilfe gebeten hatte, Lys Vespa schließlich auf das Dach des Busses gehievt hatten. Zwischen Kisten und prall gefüllten Säcken schnürten sie den Roller fest.
    Ly fand noch einen Platz im hinteren Teil des Busses, wo er eingekeilt zwischen Händlerinnen aus Hanoi saß und eine Vinataba nach der anderen rauchte. Er hatte mal wieder chinesische Kopien erwischt. Sie schmeckten furchtbar, aber was anderes hatte er jetzt nicht.
    Musik lief. Irgendwas zwischen Rap und Pop, nicht Lys Geschmack. Ein Baby schrie sich in den Schlaf. Die Klimaanlage war zu kalt eingestellt. Über den Kopfstützen der braunen Sitze lagen steife weiße Rüschendeckchen. Jedes Mal, wenn der Fahrer hupte, leuchtete eine Lichterkette unter der Decke auf. Die Frauen reichten gegrillte Hühnerschenkel und getrocknete Mango herum. Sie unterhielten sich lautstark, erst über die aktuellen Tee-Preise, dann über die Inflation. Irgendwann hörte Ly nicht mehr hin.
    Einmal wurde der Bus von zwei Verkehrspolizisten an den Straßenrand gewinkt. Eine halbe Stunde passierte gar nichts. Ly vermutete, der Fahrer wartete, bis die Schmiergeldsumme, wofür auch immer sie sein sollte, auf ein erträgliches Maß sank. Eine Frau stieg zu und zwängte sich noch zwischen die Händlerinnen und Ly auf die Sitzbank. Sie hielt einen Käfig mit einem Lori-Äffchen in der Hand, den sie sich auf den Schoß stellte. Der kleine Affe hatte ein wolliges braunes Fell und große runde Augen.
    »Wo haben Sie den denn her?«, fragte Ly.
    »Von einem Jungen am Straßenrand gekauft. Fünfhunderttausend Dong.«
    Viel Geld für so ein kleines Tier, dachte Ly. »Wollen Sie den als Haustier halten?«
    »Ach was.« Die Frau winkte ab. »Der ist fürs Fleisch.«
    Ly sah sie überrascht an. »Da ist doch nichts dran.«
    »Es gibt ja noch die Knochen«, sagte sie. »Knochenpaste von solchen Affen ist besonders gut gegen Lungenkrankheiten. Das wirkt auch vorbeugend. Bei der Dreckluft in Hanoi kann das ja nicht schaden. Meinen Sie nicht?«
    Ly betrachtete das Tier. Der Lori war nicht größer als eine Ratte. Seine langen Finger umklammerten die Gitterstäbe. Er schaute Ly mit seinen großen Augen an. Er hatte etwas Menschliches, dachte Ly, und wandte den Blick ab. Über sein Mitleid war er selbst überrascht.
    *
    Es war Abend, als der Bus endlich in den Giap-Bat-Busbahnhof einfuhr. Laternen tauchten den Bahnhofsplatz in ein gelblich schimmerndes Licht. Die Nachtbusse waren kurz davor, in alle Richtungen des Landes zu fahren. Fahrgäste schleppten Körbe, Taschen, Säcke und Kinder. Verkäufer schoben sich zwischen den Wartenden hindurch und priesen lauthals ihre Waren an. Es roch nach Benzin und Bahnhofstoilette.
    Ly musste warten, bis die Fahrgäste mit all ihren Habseligkeiten ausgestiegen waren und der Busfahrer so vor der Ladeplattform im ersten Stock des Bahnhofsgebäudes parkte, dass das Dach von oben leer geräumt werden konnte. Über eine Rampe konnte Ly abfahren. Den verletzten Arm auf die Knie gelegt, fuhr er über die Giai-Phong-Straße in die Stadt. Lichter, Menschen, Geschäfte,blinkende Werbetafeln, bia hois , Motorräder, Autos, der Lärm von Hupen und Stimmen. Er war froh, wieder zurück zu sein.
    *
    Mit schweren Beinen stieg Ly die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Er hörte die Stimmen seiner Kinder und war erleichtert, jetzt nicht in eine leere Wohnung zu kommen.
    »Hallo, Papa!«, rief Huong, als er durch die offene Tür trat.
    »Paaapiii!«, schrie Duc, sprang auf und stürzte sich ihm mit ausgestreckten Armen entgegen.
    »Vorsicht!«, rief Ly.
    Duc konnte gerade noch abbremsen und betrachtete Lys verbundenen Arm.
    »Was ist passiert?«, fragte Huong.
    »Nicht so schlimm. Nur ein kleiner Unfall mit der Vespa.«
    Duc drückte mit einem Zeigefinger auf den Verband. »Tut das weh?«
    Ly schüttelte den Kopf, wobei er gleichzeitig die Luft anhielt. Natürlich tat es weh.
    Thuy schaute

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