Der letzte Tiger
Tapferkeitsorden ausgezeichnet. Kurz vor Kriegsende heiratete sie. Sie bekamdrei Kinder. Zwei Söhne lebten heute in Saigon und waren Ärzte. Die Tochter hatte nach Deutschland geheiratet. Der Mann der Baronin, ein Leutnant beim Militär, war vor sechzehn Jahren verstorben. Nach seinem Tod zog Le Thi Phuong zurück in ihren Heimatort und baute ein Import-Export-Geschäft auf. Anfangs hatte sie Motorräder aus China importiert. Dann war sie dazu übergegangen, Plastikwaren nach Laos zu exportieren. Stühle, Tische, Geschirr, Besteck. Im Gegenzug kaufte sie in Laos Tropenhölzer, mit denen sie vor allem den Holzhandel in Thuong Tri, nördlich von Hanoi, belieferte.
Ly sah sich die Geschäftsberichte an, die Lan ausgegraben hatte. Die Motorräder waren damals über die chinesische Grenze weiter im Norden gekommen. Und ihre Import-Export-Geschäfte mit Laos wickelte Le Thi Phuong über Grenzen in Mittelvietnam ab, nicht über den Grenzübergang bei Na Cai. Wegen dieser Geschäfte schien sie also nicht zurück in ihren Heimatort gegangen zu sein.
Heimweh, fragte Ly sich, oder gab es da noch andere Gründe? Er dachte an die Gäste auf dem Karaokeabend bei ihr im Haus. Auf jeden Fall war die Baronin gut vernetzt. Und sie genoss einen guten Ruf. Sie engagierte sich sozial, hatte in der nächstgelegenen Kreisstadt Moc Chau den Bau eines Krankenhauses finanziell unterstützt und in Na Cai eine Krankenstation bauen lassen. Außerdem bezahlte sie ihrem Heimatdorf eine eigene Krankenschwester. Eine neue Schule war auch in Planung.
In einer Polizeiakte fand Ly Hinweise darauf, dass ihr vor einigen Jahren Beziehungen zu einem Schmugglerring unterstellt worden waren, der Drogen über die grüne Grenze zwischen der Provinz Houaphan in Laos und SonLa in Vietnam gebracht haben sollte. Nachweisen hatte man ihr das allerdings nicht können.
Auf ihrer Geburtsurkunde fand Ly zudem die handschriftliche Notiz, dass die Mutter der Baronin eine Hmong gewesen war. Sonst war das nirgends erwähnt. Es schien fast so, als habe sie versucht, es zu verheimlichen.
Ly las vollkommen vertieft, als ein lauter Knall ihn hochschrecken ließ. Glas splitterte. Eine Frauenstimme unten auf der Straße keifte laut. Ly kannte diese Stimme nur zu gut, es war die ewig schlecht gelaunte Nachbarin. Was da wieder für ein Streit im Gange war, fragte Ly sich. Erst als er nach seiner Weinflasche greifen wollte, ging ihm auf, dass es die Flasche war, die da auf die Straße geschlagen war. Vorsichtig sah er über die Dachkante, aber die Nachbarin war, Himmel sei Dank, schon wieder verschwunden.
*
Für elf Uhr am nächsten Morgen hatte Ly sich mit Lan am Da-Markt verabredet. Sie wollte mitkommen zu der Adresse, die er im Notizbuch von Nam, dem Unfallfahrer vom Literaturtempel, gefunden hatte. Vorher aber musste er noch in Ducs Schule. Die Direktorin hatte angerufen. Es müsse dringend ein Elternteil vorbeikommen. Da Thuy in aller Morgenfrühe mit einer Reisegruppe in die Ha-Long-Bucht aufgebrochen war, musste er das übernehmen.
»Kommissar Pham Van Ly!« Die Schuldirektorin sah ihn mit strenger Miene an, als sie ihm in ihrem Büro entgegentrat. »Wie stehen Sie zu unserer Partei?« Die Höflichkeitsfloskeln,die üblicherweise so einem Gespräch vorausgingen, ließ sie aus.
»Wie bitte?« Es war Jahre her, dass Ly das zuletzt gefragt wurde.
»Es geht mir darum«, erklärte sie in kühlem Tonfall, »ob Ihr Sohn seine nachlässige Einstellung von zu Hause hat?«
»Nachlässig? Also, ich bin bei der Polizei. Ich … arbeite für diesen Staat …« Er stockte. Hatte er sich hier überhaupt zu rechtfertigen?
»Duc verweigert sich dem morgendlichen Fahnenappell«, sagte sie. »Er kann die Nationalhymne immer noch nicht auswendig. Zweimal hat er sich während des Appells auf den Toiletten eingeschlossen.«
Ly musste sich anstrengen, nicht zu lachen. Deshalb machte diese Frau solch ein Aufheben? Trotzdem, er versprach ihr, mit Duc zu reden.
Kurz vor elf parkte Ly seine Vespa in der Tiefgarage des Da-Marktes. Lan wartete schon. Von hier aus war es nur eine Fußminute in die Phung-Hung-Straße, die am äußersten Rand der Altstadt lag und entlang der Bahngleise verlief, die sich mitten durch die Stadt zogen. Die Häuser waren eng an die Schienen gebaut und nur über einen schmalen Pfad zugänglich. In einem offenen Hauseingang saß ein Großvater und hütete, noch im Schlafanzug, zwei Kleinkinder. Ein kräftiger Mann mittleren Alters, mit Boxershorts und bloßem
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