Der letzte Tiger
Oberkörper, rasierte sich vor einem Spiegel an der Hauswand. Eine Frau wusch sich über einer Plastikschüssel neben den Gleisen die langen Haare, eine andere kochte auf einem Kohleofen vor ihremHaus Babyflaschen aus. Ly kam es vor, als drangen sie in eine Privatsphäre ein, in der sie nichts zu suchen hatten. Die Blicke der Leute verstärkten sein Gefühl noch.
»Hier war ich noch nie«, sagte Lan, deren Sommersandalen laut auf dem Boden klackten. Sie flüsterte, und Ly war sich sicher, sie kam sich hier ebenso fremd vor wie er.
Das Haus Nummer 56 war ein einstöckiger Bau mit Wellblechdach. Die Tür war nur angelehnt. Lan schob sie ein Stück weiter auf. Irgendwo im Haus lief laute Musik. »Ist wer zu Hause?«, rief sie. »Hallo!«
Sie traten ein. In dem Raum, dessen einzige Lichtquelle die Tür war, standen ein Sofa, ein Wandschrank aus Resopal und ein alter Röhrenfernseher. Neben dem Sofa parkte eine Honda Dream. »Puh, stinkt das hier«, sagte Lan. Es war ein unangenehmer, säuerlicher Geruch.
»Ja?« Eine Frau war aus dem hinteren Teil des Hauses gekommen und stand jetzt im Türrahmen zum Gang. Sie war sicherlich noch keine fünfzig, sah aber verlebt aus, mit faltigem Gesicht und unordentlich zusammengesteckten grausträhnigen Haaren. Sie rieb sich die Hände an ihrer Schürze. »Was wollen Sie?«
»Polizei«, sagte Lan etwas ungeübt, aber mit Nachdruck, und hielt ihren Ausweis hoch.
Die Frau starrte sie an. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
»Wie heißen Sie?«, fragte Lan.
»Le My Lien«, sagte die Frau mit brüchiger Stimme.
»Frau Lien«, sagte Lan. »Wir sind wegen Nguyen Van Nam hier. Sie kennen ihn?«
Die Frau nickte.
»Sie wissen sicherlich schon, dass er tödlich verunglückt ist.«
Wieder nickte sie. Gleich würde sie anfangen zu weinen, dachte Ly.
»In welcher Beziehung standen sie zueinander?«, fragte Lan.
Ly fuhr zusammen. Ein tiefes, dumpfes Hupen ertönte direkt hinter ihnen. Der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Dicht vor der offenen Haustür schob sich eine massige Diesellok vorbei. Hinter der Lok folgten von Kohlestaub schwarze Lastwaggons, deren Räder bei jeder Drehung hart auf die Schienen schlugen.
Lan wiederholte ihre Frage schreiend. Die Frau antwortete, aber Ly hörte nichts. Er sah nur, wie ihr Mund sich bewegte. Er ging ein paar Schritte auf die Frau zu. Er wollte sich im Haus umsehen. Der unangenehme Geruch hatte ihn neugierig gemacht. Doch die Frau versperrte ihm den Weg. Ly trat noch näher an sie heran. »Bitte, ich würde mich gerne umsehen«, sagte er laut.
Sie wich nicht zur Seite, presste nur die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie hatte jetzt Tränen in den Augen. Ly drückte sie mit den Händen ein Stück zur Seite und wollte sich an ihr vorbeischieben, als sie sein Handgelenk fasste und ihn flehentlich ansah. Ly riss sich los und trat in den Gang, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Es war dunkel, und der Geruch war hier noch intensiver. Er öffnete eine Tür, die seitlich abging, und tastete nach dem Lichtschalter. Eine Neonröhre flackerte schwach. Es war das Badezimmer. Die rosa Wanne war braun verschmiert. Es stank nach Blut und Kot.
Ly musste einen Würgereiz unterdrückten. Eilig zog erdie Tür wieder zu und ging langsam weiter bis zu einem überdachten Innenhof. Auf einem Gasofen stand ein großer rußiger Kessel. Ein brauner Sud, aus dem Blasen aufstiegen, kochte vor sich hin. Vor der kahlen Rückseite des angrenzenden Nachbarhauses stand etwas Hohes, Rechteckiges, über dem eine LKW-Plane lag. Mit einem Ruck zog Ly die Plane herunter. Zwei übereinander gestapelte Käfige kamen zum Vorschein. Im oberen kauerten zwei Gibbons, die Hände gegenseitig in das Fell gekrallt. Im unteren saß ein junger Bär. Er wimmerte leise und schob seine Schnauze durch die Gitterstäbe. Ly schaute sich um, entdeckte aber nichts Essbares, was er ihm hätte geben können.
Von der einen Seite des Hofes ging ein weiterer Raum ab, den zwei große Kühltruhen vollkommen ausfüllten. Ly hob den Deckel einer der Truhen an und ließ ihn sofort wieder fallen. » Ma quy «, rief er aus. Geister und Dämonen. Er hob den Deckel noch einmal an. Ein Tiger starrte ihn aus weißtrüben Augen an. Sein Maul war weit aufgerissen, die Schnauze von Eis überwuchert.
Vorne im Wohnzimmer saß Le My Lien reglos auf dem Sofa und weinte tonlos.
»Sie ist vollkommen aufgelöst«, flüsterte Lan.
»Sicher nicht wegen ihres toten Fahrers«, sagte Ly barsch.
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