Der letzte Tiger
»Ruf bei der Umweltpolizei an. Dieser Tu soll verdammt noch mal kommen. Sofort. Und mit Verstärkung.«
*
Zwanzig Minuten später kam Tu mit einigen seiner Leute die Schienen entlang. Er würdigte Ly immer noch keines Blickes. Der Parteikommissar hatte recht, dachte Ly. So jemanden konnte man nicht wirklich ernst nehmen.
*
Während Tu und seine Leute noch im Haus an den Gleisen waren, folgte Ly dem Gefängniswagen nach Cau Dien. Die Untersuchungshaftanstalt lag eine gute halbe Stunde westlich vom Stadtzentrum. Es dauerte, bis die Formalitäten erledigt waren. Fotos, Fingerabdrücke, zahllose rote Stempel … das Übliche. Als Le My Lien endlich ins Verhörzimmer geführt wurde, war Ly schon vollkommen erschlagen von der langen Warterei.
Das Verhörzimmer war ein kleiner, sehr hoher Raum im Erdgeschoss. Ein winziges, vergittertes Fenster war so weit oben eingelassen, dass man unmöglich hinausschauen konnte. Der türkisfarbene Putz war an einigen Stellen abgerieben und hatte ein schmutziges Grau hinterlassen. Ly zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben den Ermittlungsrichter. Le My Lien saß ihnen gegenüber auf einem Holzstuhl, knetete ihre Hände und stierte ins Leere.
Der Ermittlungsrichter fing mit den biographischen Fakten an. Alter, Beruf, Familie. Die Frau antwortete in monotonem Tonfall. Sie war in Hanoi geboren, 48 Jahre alt, Bahnangestellte, verwitwet, ein Sohn. Der Sohn arbeitete schon seit einigen Jahren in Dubai. Auf die Frage, ob er ihr Geld schickte, sagte sie mit Bitterkeit in der Stimme: »Selten.«
Der Richter verlas den Tatvorwurf und den Haftgrund sowie zahlreiche Belehrungen über ihre Rechte, die, wie Ly nur zu gut wusste, in der Praxis nicht unbedingt existent waren. Nachdem er geendet hatte, nickte der Richter Ly zu.
»Der Tiger, den wir bei Nguyen Van Nam aus dem Wagen geholt haben, war für Sie bestimmt. Liege ich da richtig?«, übernahm Ly die Befragung.
Le My Lien zuckte mit den Schultern.
»Woher haben Sie die Ware?«, fragte Ly.
»Ich weiß nicht. Nam war der Chef.«
»Wer sind Ihre Abnehmer?«
»Das hat alles Nam gemacht.«
Ly stützte die Hände auf den Tisch und lehnte sich vor. »Nam hat in einer Massenunterkunft gehaust. Alle paar Wochen hat er ein paar tausend Dong abgezweigt, um sie seinen Eltern zu schicken.« Er war laut geworden. »Er war verdammt noch mal nicht Ihr Chef. Er war Ihr Fahrer.«
Keine Antwort, die Frau knetete nur weiter ihre Hände. Ly stand auf und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch in den Lungen tat gut. »Die Tiere waren in Ihrem Haus«, setzte er nach.
»Die haben das als Lager benutzt.«
»Wer?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ly trat gegen einen der Stühle, der laut polternd umkippte. Der Ermittlungsrichter zog die Brauen hoch und legte die Stirn in Falten, sagte aber nichts.
»Wer?«, fragte Ly noch einmal.
Le My Lien hob den Kopf und sah ihn an. »Ich habe das Recht zu schweigen.«
Ly beugte sich zu ihr hinunter, so dass sein Gesicht nah vor ihrem war, schaute ihr in die Augen und sagte: »Sie sollten lieber reden.« Für den Bruchteil einer Sekunde meinte Ly, Wut zu sehen. Dann nahm der Gesichtsausdruck der Gefangenen wieder einen leeren Ausdruck an.
Von außen hämmerte jemand mit der Faust gegen die schwere Stahltür. Der Wärter, der die ganze Zeit schweigend neben der Tür gestanden hatte, klappte das Guckloch auf. Ly hörte ihn leise reden, ohne dass er etwas verstand. Dann öffnete der Mann die Tür. Draußen stand Tu und winkte Ly heraus. Er atmete schwer, als sei er gerannt. »Ich wollte Ihnen das persönlich mitteilen. Es ist der größte Fund dieses Jahres. Wir haben zehn Bärentatzen gefunden, drei Schuppentiere, zweiundzwanzig Fledermäuse. Dann den Tiger in der Kühltruhe. In Einzelteile zerlegt. Außerdem Dutzende getrocknete Gallenblasen von Bären. Hirschgeweihe. Nashorn-Horn. Einen Waran. Der Waran lebt noch. Ebenso das Bärenjunge und zwei Gelbwangen-Gibbons. Und einen Kessel, in dem verschiedene Tierknochen eingekocht wurden.«
Ly konnte der hastigen Aufzählung kaum folgen. Da waren ihm seine menschlichen Leichen fast lieber. Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Wo zum Himmel sollte er hier bloß ansetzen? »Schick den Bericht zu Lan rüber«, sagte er und hatte sich schon abgewandt, als er Tus Hand auf seiner Schulter spürte. Er drehte sich noch einmal zu ihm um.
»Kommissar Ly«, sagte Tu, wobei er Lys Blick auswich, »ich möchte um Entschuldigung bitten.«
»Ich hab mich
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