Der letzte Tiger
Vorstellung, sich jetzt zu Hause von Thuy weitere Vorwürfe wegen seiner Schwester anhören zu müssen, überforderte ihn vollkommen.
Sein erstes Bier trank er in einem Zug aus, lehnte seinen Rücken gegen den Stamm des alten Mandelbaums und schloss die Augen. Sein Arm schmerzte nicht mehr, und das taube Gefühl war verschwunden, dafür juckte der Arm jetzt.
Von den Gesprächen um ihn herum drang nur ein Stimmenwirrwarr zu ihm durch. Ohne dass Ly bestellt hatte, brachte Minh ihm knusprig gegrillte Rippchen, gekochte Erdnüsse und ein zweites Bier, ging aber gleich wieder. Minh kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er jetzt nicht reden wollte.
Die Augen halb geschlossen, ließ Ly seine Gedanken treiben. Was hatte Le My Lien gesagt? »Die haben das als Lager benutzt!« Eigentlich war das die einzige relevante Aussage gewesen, dachte Ly. »Die.« Wer waren »die«?
Er fragte sich, ob nicht doch dieser Unfallfahrer vom Literaturtempel Le My Liens Chef gewesen war. Seine Vermieterin hatte gesagt, er habe gespielt. Vielleicht hatte er sein Geld immer gleich verwettet und nur deshalb in dieser Absteige gehaust. Aber Ly verwarf den Gedanken wieder. Dieser Nam war doch auch nur eine weitere armselige Gestalt, kein cleverer Geschäftsmann. Dem Obduktionsbericht zufolge hatte er nicht mal Plomben in seinen kaputten Zähnen gehabt. So jemand war nicht der Boss eines kriminellen Netzwerks.
Als Ly nach Hause kam, schliefen schon alle. Er lag noch lange wach und fiel dann in einen unruhigen Schlaf.
*
»Du bist so ein Feigling.« Das war das Erste, was Thuy am Morgen zu ihm sagte. Er lag noch im Bett und blinzelte verschlafen. Von draußen drang das Zwitschern von Vögeln herein und der Lärm von Motoren und quietschenden Bremsen.
»Du könntest dich wirklich mal für Tam einsetzen. Sie ist deine kleine Schwester«, setzte Thuy nach.
Ly hatte keine Lust, sich zu verteidigen. Er hatte Durst und sein Kopf dröhnte. Er hatte gestern zu viel getrunken. Er stand auf, griff seine Klamotten und verließ, ohne ein Wort zu sagen, die Wohnung.
»Hau nicht immer ab!«, schrie Thuy ihm hinterher.
Ly zündete sich eine Zigarette an und drehte sich nicht mehr um. Unten im Hof hielt er seinen Kopf unter den Wasserhahn und drehte kalt auf. Enttäuschung kroch in ihm hoch. So schnell waren Thuys und sein Versuch, einen anderen Umgang miteinander zu finden, gescheitert.
Mit ruppigen Bewegungen zog er sich an und ging durch den langen Gang nach vorne. Sein Bruder Hieu hockte mit nacktem Oberkörper in der Werkstatt und schrubbte mit einer Stahlbürste Ruß von einer Zündkerze. Er beachtete Ly wie immer nicht weiter. Neben ihm stand schon ein erstes Bier. Er ist noch schlimmer als ich, dachte Ly, und schenkte sich aus einer Kanne auf dem Verkaufstisch seiner Mutter einen kalten Tee vom Vortag ein. Sein Blick fiel auf die Volkszeitung, die auf dem Tisch lag.
»Hanoi: Tiger in Kühltruhe gefunden« lautete die Schlagzeile. Darunter ein Foto von Tu neben dem tiefgefrorenen Tiger. Das Tier lag, seine Einzelteile ordentlich arrangiert, auf einem weißen Tuch. Dem Hintergrund nach zu urteilen, musste das Foto noch im Haus an den Gleisen aufgenommen worden sein. Ly griff nach der Zeitung und las. Es wurden keine Details erwähnt, nur dass die Polizei ein Lager illegal gehandelter Tiere in der Innenstadt von Hanoi ausgehoben hatte. Tu wurde kurz zitiert.
Das durfte doch nicht wahr sein. Wie kam Tu dazu, mit der Presse zu sprechen? Kein Aufsehen, das war die Forderung des Parteikommissars gewesen. Außerdem war es immer noch Lys Fall, ob Tu das nun gefiel oder nicht.
»Ly!«, rief seine Mutter aus ihrem Zimmerchen, das mit einem in den Raum gezogenen Schrank von der Werkstatt abgetrennt war. »Ly?«
Ly ging zu ihr. Sie war noch im Bett. Sie sah winzig aus, wie sie dort unter der Decke lag. Angst kroch in Ly hoch. Er murmelte ein » lay troi lay dat «, seine hilflose Beschwörungsformel, mehr um sich selbst zu beruhigen, als um damit wirklich die bösen Geister zu vertreiben.
»Die Schmerzen«, sagte sie mit müder Stimme.
Ly setzte sich neben sie auf die Bettkante, nahm ihre alte dürre Hand und strich über die fast durchsichtige Haut.
Das, was er in den letzten Tagen über den Tierhandel erfahren hatte, gefiel ihm nicht. Und der Fund gestern im Haus an den Gleisen hatte ihn mehr entsetzt, als er es sich hatte eingestehen wollen. Aber es ging um seine Mutter. Wenn Tigerknochenpaste wirklich das Beste für sie war, würde er sie ihr
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