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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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ging die Lan-Ong hinunter und hielt sich im Schatten der alten Bäume. Am Himmel war keine Wolke zu sehen, und in der Sonne war es warm. Die Frühsportler waren verschwunden, dafür waren die Ladentüren mittlerweile überall aufgezogen. Der süßlich-herbe Geruch der Heilpflanzen hing schwer in der Luft und mischte sich mit dem abgebrannter Räucherstäbchen und aufgeschnittener Mangos.
    Es gab nicht ein Haus in der Gasse, in dem nicht traditionelle Medizin verkauft wurde. Vor einigen Läden standen die Kunden an. Auch wenn westliche Medizin verbreitet war, vertrauten die meisten Menschen, die Ly kannte, immer auch in die traditionelle Medizin, vor allem bei Fällen chronischen Leidens.
    Vor einem Haus blieb Ly stehen. Es war ein schmales Haus, kaum zwei Meter breit und mit nur einer niedrigen Lageretage über dem Erdgeschoss. Im Oberfenster gab es keine Glasscheibe, sondern nur ein Gitter, das von innen mit Säcken zugestellt war. Auf dem Gehweg vor dem Eingang standen Kisten mit Baumrinden, Beeren und Kräutern. Tiere konnte Ly außer ein paar getrockneten Geckos, die auf einer Schnur aufgefädelt in der Tür hingen, keine entdecken. Ein Mann saß auf einem Schemel und schnitt mit einem Klappmesser einen tellergroßen linh chi -Pilz in dünne Streifen.
    Ly fragte nach Doktor Ha. Sie war Ärztin für traditionelle Medizin, genau wie Doktor Song. Eine Frau Mitte dreißig, die das Geschäft, das seit Generationen in Familienhand war, bereits seit einigen Jahren leitete. Er kannte sie, weil Thuy und die Kinder zu ihr gingen, wenn sie krank waren. Thuy hatte nie gesagt wieso, aber sie hatte sich immergeweigert, Doktor Song zu konsultieren. Ly vermutete, sie wollte sich nicht demselben Arzt anvertrauen wie die Großfamilie, in die sie eingeheiratet hatte. Ly wusste nur zu gut, dass sie immer versuchte, eine gewisse Distanz zu halten.
    »Ha!«, rief der Mann. »Ha! Kundschaft.«
    Frau Ha kam nach vorne und wischte ihre Hände an einem Tuch ab. »Herr Ly? Sie hier?«
    Ly machte ein entschuldigendes Gesicht und erklärte umständlich, weshalb er gekommen war. Es war ihm etwas unangenehm, nie als Patient zu ihr zu kommen und sie jetzt wegen seiner Ermittlungen um Informationen anzugehen. Doch sie lachte nur, wobei sie den Kopf in den Nacken warf.
    »Natürlich, ich habe gehört, dass das Ihr Fall ist. Haben Sie denn zur Umweltpolizei gewechselt?«
    »Bewahre, nein«, sagte Ly. Dass Frau Ha schon wusste, dass er die Ermittlung leitete, wunderte ihn nicht besonders. Auch wenn Hanoi mittlerweile mehr als sechs Millionen Einwohner zählte, war es in seiner Seele doch ein Dorf geblieben. Die Leute tratschten, wo es nur ging.
    »Also, was wollen Sie wissen?«, fragte Frau Ha. »Ob ich Tigerknochenpaste verkaufe?«
    Ly musste grinsen. »Würden Sie es mir denn verraten?«
    Sie lachte wieder. Kleine Fältchen zogen sich um ihre Augen. »Ich hab da nichts zu verraten.« Sie erklärte Ly, dass die meisten Apotheker und Ärzte längst Abstand genommen hätten von Produkten, in denen Teile illegal gehandelter Tiere verarbeitet wurden.
    »Aber können Sie so einfach darauf verzichten? Sind es nicht altbewährte Mittel?«, hakte Ly nach, ohne genau zu wissen, ob er das sagte, um sie zum Reden zu bringen oder um von ihr zu hören, dass die Paste, die er von Doktor Song bekommen hatte, doch die für seine Mutter ersehnte heilende Wirkung bringen würde.
    »Ach was.« Sie schnalzte mit der Zunge. »In meiner Familie arbeiten wir schon immer fast nur mit Heilpflanzen. Sie glauben doch nicht, dass sich die Kranken früher den Luxus von Tigerknochenpaste oder Bärengalle leisten konnten. Außer ein paar ganz wenigen vielleicht.« Sie hielt Ly einen kurzen Exkurs über die Geschichte der traditionellen Medizin und fing dann an, näher auf das einzugehen, was ihn wirklich interessierte: die Tiere. Heute wolle jeder Dahergelaufene irgendwelche Mittelchen mit Schlange, Tiger, Bär oder Affe. Je wilder und seltener das Tier, desto größere Kräfte sprächen sie ihnen zu. Sie pustete die Wangen auf. »Diese ganzen Schmiergeld-Milliardäre. Die stopfen das in sich rein, ohne überhaupt krank zu sein. Das ist doch reine Angeberei.«
    Ly rang sich ein Lächeln ab und verbarg die Tüte mit der Paste, die Doktor Song ihm gegeben hatte, so gut es ging, hinter seinem Rücken.
    »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Frau Ha und bewegte die Hände flach vor sich in der Luft auf und ab, als wolle sie sich selbst beruhigen. »Sicherlich haben auch

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