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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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kaufen. Notfalls würde er Geld von demErsparten für Huongs Universitätsstudium nehmen. Die Gedanken an die Einwände von Thuy, deren er sich sicher war, schob er weg.
    *
    Die Tore zu den vielen kleinen Tempeln in der Altstadt standen an diesem Morgen offen. Es war der fünfzehnte Tag des Mondmonats, und die Menschen pilgerten mit ihren Bitten und Opfergaben zu den Altären.
    Ly war zu Fuß in die Lan-Ong-Gasse gegangen. Doktor Song hatte gerade eine Patientin da. Ly klopfte eine Thang Long aus der Packung und wartete vor dem Haus. Es war noch früh. Anwohnerinnen hatten sich zum Tai-Chi zusammengefunden. Ein junger Mann stemmte Gewichte, die er mitsamt der Hantelbank auf den Gehweg geschleppt hatte. Jogger rannten an Ly vorbei. Am Straßenrand hockten Landfrauen mit ihren Körben mit Bananen, Wasserspinat, Knoblauch und frischen Kräutern. Irgendwo lief ein Radio. Zwei alte Männer saßen in Wohnzimmersesseln vor einem Haus und spielten Karten.
    Sobald die Patientin gegangen war, winkte Doktor Song Ly herein. Während er Tee aufgoss, sprach Ly ihn noch einmal direkt auf die Tigerknochenpaste für seine Mutter und auf den Preis dafür an.
    »Ich kann an dem Preis nichts machen. Ich weiß, es ist schlimm, wie teuer die Paste ist. Wer kann sich das leisten?«, sagte Doktor Song. »Früher, als wir selbst produziert haben, war das besser. Aber mit diesen ganzen Gesetzen und den dauernden Kontrollen ist das Geschäft in den Untergrund gerutscht.«
    »Wer hat das Geschäft jetzt inne?«, fragte Ly.
    »Es gibt keine regulären Händler. Irgendwelche Leute tun sich zusammen, kaufen einen Tiger und mieten sich jemanden, der die Knochen für sie einkocht.«
    »Bis wann können Sie mir etwas besorgen?«, hakte Ly nach.
    »Ich kann nie sagen, wann. Manchmal wird mir etwas angeboten, aber immer seltener. Die wollen die Paste meistens ohne Zwischenhändler verkaufen, oder sie behalten sie für sich, um sie zu verschenken. Die Gunst erkaufen … Sie wissen schon.«
    Doktor Song reichte Ly eine Tasse des frisch aufgebrühten Artischockentees.
    »Es geht meiner Mutter wirklich schlecht«, sagte Ly.
    Doktor Song trank seinen Tee, den Blick nach draußen gerichtet, wo jetzt ein Bus durch die für ihn viel zu enge Gasse rollte. Plötzlich stand er unvermittelt auf. »Dass ich nicht vorher daran gedacht habe. Ich könnte Ihnen … warten Sie.« Er ging an seinen Apothekerschrank, stieg auf einen Schemel und zog mehrere Schubladen in der oberen Reihe heraus, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Er reichte Ly etwas, das aussah wie ein dunkelbraunes Stück Seife. Es roch allerdings gar nicht gut, sondern ranzig und fischig.
    »Diese Tigerknochenpaste habe ich mal für einen Notfall zurückgelegt«, sagte Doktor Song.
    Ly nahm sie und drückte seinen Fingernagel in die Masse, die die zähe Konsistenz von Kaugummi hatte. Die Bezeichnung Paste erschien ihm dafür nicht ganz angebracht.
    »Lösen Sie davon kleine Stücke in Schnaps auf«, sagte der Arzt.
    »Meine Mutter wird es Ihnen danken«, sagte Ly. »Das Geld bringe ich später vorbei.«
    Doktor Song machte eine abwehrende Handbewegung. »Lassen Sie mal. Ich kenne ihre Mutter so lange. Das ist schon in Ordnung.«
    Ly nickte dankend und sagte: »Könnte das unter uns bleiben. Ich …« Er stockte. »Sie haben sicher von diesem Tiger am Literaturtempel gehört. Das ist mein Fall.«
    Doktor Song sah ihn einen Moment überrascht an, dann lachte er. »Da haben sie ja den Richtigen auf den Fall angesetzt.«
    Ly zündete sich eine Zigarette an. Nach dem zweiten Zug sagte er: »Könnten Sie … Ich will Sie nicht aushorchen. Ich versuche einfach zu verstehen, wie dieses Geschäft mit der Paste funktioniert. Woher die Tiere kommen, wie sie verarbeitet werden …«
    Doktor Song sah ihm ins Gesicht, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ich bin kein Informant«, sagte er, und Ly meinte aus seiner Stimme unterdrückte Wut herauszuhören. Die Reaktion des Arztes verletzte ihn. Er hatte gedacht, Doktor Song würde ihm mehr vertrauen. Andererseits hatte er ihm gerade ein sehr teures und auch nicht ganz unverfängliches Geschenk gemacht. Er sollte es gut sein lassen, dachte Ly bei sich und hob entschuldigend die Hände. Doktor Song schenkte noch einmal Tee nach, doch Ly brach auf.
    Der Arzt folgte ihm auf die Straße. »Kommissar«, sagte er leise, wobei er Ly die Hand auf die Schulter legte. »Seien Sie vorsichtig. Das Geschäft mit den Tieren … diese Leute schrecken vor nichts zurück.«
    *
    Ly

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