Der letzte Tiger
am Fluss lebten. Die Stadt würde er meiden.
»Führen Sie mich im Präsidium herum?«, fragte Bang und hatte wieder dieses Glitzern in den Augen, das Ly schon vorher bei ihm aufgefallen war. Er wollte den Jungen nicht enttäuschen, hatte aber auch keine Lust, dem Parteikommissar im Präsidium über den Weg zu laufen. Dessen zu erwartender Ärger über den Artikel in der Volkszeitung sollte ruhig erst mal etwas abflauen.
»Ein anderes Mal«, sagte Ly, griff nach dem kleinen Kescher, der neben dem Aquarium lag, und fischte das Futter aus dem Wasser, bevor es absinken konnte.
»Bitte«, setzte Bang nach.
Ly seufzte. »Ich kann dich mit dem Streifenwagen in die Stadt fahren. Wie wär das?«
»Okay«, sagte Bang.
Ly ließ den Jungen einen Moment alleine und ging zu Lan hinüber, um einen Wagen zu organisieren, der sie vor dem Tor abholen sollte.
Auf dem Weg nach unten lenkte Ly das Gespräch auf die Hmong. Er fragte sich schon die ganze Zeit, weshalb der Ranger ihm bei seinem nächtlichen Besuch von dem verstorbenen Sohn des Schamanen erzählt hatte. Was war da passiert?
»Kanntest du eigentlich Xangs Bruder?«, fragte Ly.
»Kaum. Er war viel älter«, sagte Bang.
»Er soll verunglückt sein.«
»Heißt es, ja. Aber ich hab keine Ahnung, was passiert ist. Niemand redet darüber.«
*
Die Hang-Trong war kaum fünf Autominuten vom Präsidium entfernt. Ly bat den Fahrer des Streifenwagens, einen Umweg zu nehmen. Der Junge sollte zumindest etwas von der Fahrt haben.
Bang saß neben Ly auf der Rückbank und lehnte sich weit zwischen den Vordersitzen vor, so dass er durch die Frontscheibe sehen konnte. Der Fahrer hatte die Sirene angestellt und sichtlich Spaß daran, die anderen Verkehrsteilnehmer von der Straße zu scheuchen.
Sie fuhren über die Straße der Jugend am Ufer des Westsees entlang. Alte Frauen in braunen Kitteln, in rotes Papier eingewickelte Räucherstäbchen in den Händen, liefen Richtung Tran-Quoc-Pagode. Am Straßenrand brannten kleine Feuer mit falschen Geldscheinen und anderen Opfergaben.
Ly hatte ein flaues Gefühl im Magen. Was hatte es mit dem Tod von Xangs Bruder auf sich? Ein Tod, über den niemand redete.
»Haben Sie eigentlich Ihren Freund gefunden?«, fragte Bang unvermittelt.
Ly fuhr aus seinen Gedanken hoch.
»Truong?«, fragte Ly. »Er ist tot.«
Bang riss den Kopf herum. »Wie? Tot?«
Ly biss sich auf die Zunge. Das war wohl etwas zu direkt gewesen. »Er ist …« Ly stockte. »Er hatte auch einen Unfall.«
»Bei uns?« Bang sah Ly mit offenem Mund an.
»Nein. In Hanoi. Aber kurz vor seinem Tod war er in Na Cai«, sagte Ly.
»Dann haben Sie mich angelogen? Er war schon tot, als Sie bei mir an der Grenze waren. Er ist gar kein Freund.Es ist einer Ihrer Fälle.« Bang redete schnell, in seinem Gesicht hatte er mit einem Mal rote Flecken, die sich bis über den Hals zogen.
»Truong war wirklich ein Freund von mir. Und ja, ich ermittle. Allerdings nur für mich. Ich wollte wissen, ob sein Besuch in Na Cai irgendwas mit seinem Tod zu tun hatte.«
»Und, hat er?«, fragte Bang schroff.
»Ich weiß es nicht«, sagte Ly und fragte sich, wieso Bang so verstört reagierte. War Truongs Tod der Grund oder die Tatsache, dass Ly ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte? Oder war es einfach eine dieser jugendlichen Launen? Er kannte den Jungen ja kaum.
Bang war bis an die Seitentür gerutscht. Der Fahrer stellte die Sirene aus. Sie waren jetzt in Höhe des Ho-Chi-Minh-Mausoleums, da wurde kein Spaß verstanden. Ly spürte Bangs Blick auf sich. Sobald er jedoch zu ihm hinsah, guckte er weg. Ohne ein weiteres Wort durchquerten sie die Altstadt.
»Hier«, rief Bang und hatte schon eine Hand am Türgriff. Sie waren noch nicht einmal in die Hang-Trong-Gasse eingebogen. Bevor der Fahrer noch richtig bremsen konnte, hatte Bang die Tür aufgerissen. Ein Moped, das eng neben ihnen fuhr, konnte gerade noch ausweichen.
»Wenn du willst, zeige ich dir morgen das Präsidium«, sagte Ly. Doch Bang war bereits aus dem Wagen gesprungen und schlug die Tür hinter sich zu.
Ly wartete einen Moment, dann stieg er auch aus und folgte Bang. Der Junge ging schnell und wich immer erst im letzten Moment den Souvenirverkäufern aus, die hier mit ihren Reisstrohhüten, T-Shirts, Postkarten und Reiseführernstanden. Die Hang-Trong war eine Hauptroute der Touristen. Sie verband die alte französische Kathedrale mit der Hang-Gai-Straße, in der sich ein Seidengeschäft an das nächste reihte.
Vor einem
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