Der letzte Tiger
Kanarienvogel hüpfte in seinem Käfig von Stange zu Stange, und es roch nach Rosen, auch wenn Ly nirgends welche entdecken konnte. Er setzte sich auf einen der etwas angerosteten Metallstühle und zündete sich eine Zigarette an. Er war der einzige Gast.
»Hallo, Kommissar. Was darf ’s sein?«, rief die Wirtin ihm zu, während sie mit einem Gartenschlauch Wasser in eine ausrangierte Badewanne laufen ließ. In dem Wasser würde sie die Bier- und Colaflaschen kühlen. Ly bestellte einen Kaffee und einen klaren Schnaps und bat sie, ihm aus der Garküche nebenan gebratene Nudeln mit Putenherzchen und Leber zu holen.
Während er noch auf seine Bestellung wartete, dachte er über den Tod von Le My Lien nach. Das war doch Blödsinn. Keine Schlange verirrte sich in eine aus Beton gegossene Sicherheitsanstalt. Aber gegen die Aussagen dieserWärter würde er nicht ankommen. Diese Typen hielten zusammen. Sie zu bestechen, eine Schlange in eine Zelle zu legen war sicherlich kein Problem. Vielleicht war es kein Zufall gewesen, dass man ihn gestern nicht mehr zu Le My Lien gelassen hatte.
Ly wurde das Gefühl nicht los, dass da jemand schon wieder einen Unfall inszeniert hatte. Truongs Stromschlag. Und nun der Schlangenbiss, der Le My Lien getötet hatte. Und vielleicht gehörte sogar der Unfalltote mit dem Tiger auf dem Rücksitz in diese Reihe.
Der Mörder war sicherlich keiner der Typen, die sich als Gangster aufspielten, mit Geld um sich warfen und ihre guten Beziehungen ins Spiel brachten, wenn es eng wurde. Das war jemand, der subtiler arbeitete. Heimlich. Vielleicht jemand, von dem niemand annahm, dass er zu so etwas fähig war.
Er musste diese Jacky ausfindig machen, vielleicht würde sie ihn zum Täter führen. Er rief bei Quynh im Quan Ruou No. 1 an, erfuhr aber nur, dass Quynh noch immer nicht zurück in Hanoi war. Eine andere Möglichkeit, an diese Jacky heranzukommen, fiel ihm nicht ein. Ihm fremde Gastwirte, die mit Wildfleisch handelten, auf diese Jacky anzusprechen, würde ihn sicherlich nicht zum Ziel bringen. Und noch mal mit der Souvenirverkäuferin oder dem alten Nachbarn der Baronin in der Hang-Trong zu reden, schätzte er auch als sinnlos ein.
Ly wollte gerade aufbrechen, als sein Telefon piepte. Eine Nachricht war eingegangen. Ly brauchte einen Moment, bis er es schaffte, sie zu öffnen. Es war ein Film. Er kam von Bang. Ly drückte auf den Startpfeil.
Erst sah er nur Blätter und Gestrüpp, und es ertönte eindiffuses Geräusch wie von starkem Wind. Das Bild schwenkte auf ein Gitter aus Maschendraht. Dahinter konnte Ly zusammengekauert mehrere Makaken erkennen. Es folgte ein weiterer Käfig: darin ein junger Bär. Das Display wurde schwarz, Ly konnte aber Schritte hören, die durch Laub raschelten. Dann kamen weitere Käfige ins Bild: mit Gibbons, Lori-Äffchen, Zibetkatzen, Stachelschweinen, Schildkröten. Die Käfige waren alle klein, mit rostigen Gitterstäben.
Ly erkannte diese Szenerie wieder. Verdammt. Natürlich, das waren die Käfige, die Truong fotografiert hatte. Dann standen sie also wirklich irgendwo da oben bei Na Cai. Aber wieso hatte Bang sie gefilmt und ihm den Film geschickt? Wenn er von ihnen gewusst hatte, hätte er ihm das doch gleich sagen können, nachdem er Truongs Fotos in seinem Büro gefunden hatte. Und das hatte er, da war sich Ly sicher.
Er versuchte Bang auf der Nummer, über die er den Film geschickt hatte, zu erreichen. Aber es gab keine Verbindung, und Ly spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Truong hatte diese Käfige fotografiert. Er war tot. Was war mit Bang? Er dachte an die Sätze des blinden Wahrsagers. »Fast noch ein Kind. Im Wald sind die Bäume gefallen. Der Boden ist schwer und nass.«
Lass dich von den Sätzen dieses Blinden bloß nicht irre machen, sagte er sich und klickte die Kontaktliste seines Telefons durch. Er hatte kürzlich noch die Nummer dieses Hauptwachtmeisters aus Na Cai gespeichert. Für alle Fälle. Er drückte auf Anruf.
»Pham Van Ly hier, Mordkommission Hanoi«, sagte er.
»Oh, der Kommissar aus Hanoi, was verschafft mir dieEhre?«, fragte Hauptwachtmeister An Phan mit spöttischem Unterton.
»Ich muss mit Ihrem Grenzchef sprechen.«
»Da sind Sie hier falsch. Versuchen Sie es über den Grenzschutz.« Der Hauptwachtmeister lachte dumpf.
Ly fluchte kaum vernehmbar. »Was haben deine Ahnen nur für Scheiße gefressen, so einen wie dich zu zeugen.« Er hatte gerade wirklich keine Nerven für solche albernen Machtkämpfe.
»Wie
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