Der letzte Tiger
Er schlug gegen den Boiler, der unter der Decke hing, und kurz darauf dampfte es wieder.
Die einzige Person oben aus den Bergen, deren Stimme ähnlich gewesen war, war Pao. Aber nein, dachte Ly. Der Hmong-Schamane konnte es nicht sein. Der Mann gestern Nacht hatte akzentfrei Vietnamesisch gesprochen, das Vietnamesisch des Hmong-Schamanen war brüchig. Oder hatte Pao das nur vorgetäuscht? Möglich war es. Pao hatte diese Tiere im Hof gehabt. Er hatte den Standort der Käfige im Wald gekannt. Und er hatte genau gewusst, wo er nach Bang zu suchen hatte. Und Paos Sohn, der unter mysteriösen Umständen umgekommen war – Ly wusste nicht, was es damit wirklich auf sich hatte.
Aber war Pao jemand, der der Baronin sagen konnte, was sie zu tun und zu lassen hatte? Das hatte die Baronin doch überhaupt nicht nötig. Wieso sollte sie, die so gute Beziehungen hatte, überhaupt irgendjemand anderen als Chef respektieren? Ly konnte sich nur einen Grund erklären: Verwandtschaft.
Wieder wurde das Wasser kalt. Diesmal half ein Schlag gegen den Boiler nicht. Das Wasser blieb kalt. Natürlich, dachte Ly. Die Notiz in der Geburtsurkunde! Die Mutter der Baronin, sie war eine Hmong gewesen. Ly merkte, wie er plötzlich zitterte. Er musste sofort Lan anrufen. Vielleichtkonnte sie herausfinden, ob es irgendeine familiäre Beziehung zwischen den beiden gab. Er drehte das Wasser aus und trocknete sich ab.
*
»Das verstehe ich nicht«, sagte Lan, nachdem er ihr von seinem Verdacht erzählt hatte. »Dieser Pao hat dir doch noch geholfen, Bang zu finden. Warum hätte er das dann tun sollen?«
»Vielleicht, um sich zu tarnen?«
»Du hast erzählt, er hat nicht mal Strom in seiner Hütte. Wenn er der Chef dieses Netzwerkes ist, was macht er mit dem ganzen Geld?«
»Ich weiß es nicht, aber …«
»Ly, das ist Unsinn. Das passt doch alles nicht«, sagte Lan. »Meinst du nicht, die Baronin würde eher mit jemandem zusammenarbeiten, der die Kontakte zu den Abnehmern hat?«
»Und wer sollte das sein?«
»Jemand aus Hanoi«, sagte Lan.
Er drückte die Augen zu und presste seine Hände gegen die Stirn. »Hanoi« – das Worte hallte wie ein Echo in Lys Kopf. Konzentriere dich, sagte er sich. Denk nach. Mit aller Macht versuchte er, sich die Stimme zu vergegenwärtigen. Und mit einem Mal wusste er, weshalb sie ihm so vertraut erschienen war. Es war nicht aus Na Cai, woher er sie kannte. » Ma quy« , rief er. Geister und Dämonen. Es war so naheliegend, dass er es nicht glauben konnte.
»Ly, was ist?«, rief Lan durch den Hörer. »Ly?«
»Ich … du hast recht«, sagte er.
»Womit?«
»Mit Hanoi. Es ist nicht der Hmong-Schamane. Es ist …« Lys Worte überschlugen sich, als er ihr sagte, welcher Verdacht ihm gerade gekommen war.
»Das kann nicht sein«, sagte Lan.
»Doch, doch«, stammelte Ly und rieb sich die Hand über das Gesicht. Er konnte selbst nicht fassen, was er da eben gesagt hatte. »Und er weiß, dass ich an ihm dran bin. Sonst hätte er nicht diesen Anschlag verübt.«
»Und jetzt?«
»Morgen erwartet er eine Lieferung«, sagte Ly. »Da schnappen wir ihn uns.«
»Die nimmt er doch nicht mehr an. Er wird abhauen«, sagte Lan. »Jetzt, wo sein Plan, dich zu töten, nicht aufgegangen ist.«
»Vielleicht haben wir ja Glück. Er hat zur Baronin gesagt, in der Lieferung stecke viel Geld. Es ist doch möglich, dass er das Geld so dringend braucht, dass er das Risiko eingeht.«
»Aber doch nicht, wenn er weiß, dass du ihn bei der Baronin gesehen hast.«
»Vielleicht denkt er ja mittlerweile, dass ich ihn doch nicht erkannt habe. Sonst hätte ich doch längst etwas gegen ihn unternommen.«
»Ich weiß nicht.«
»Wir müssen es versuchen. Wenn wir ihn nicht auf frischer Tat ertappen, haben wir keine Beweise gegen ihn.«
»Okay«, sagte Lan. »Ich setze Tu darauf an. Er soll sich an ihn dranhängen.«
»Ich stoße später dazu, sobald ich hier weg kann«, sagte Ly.
»Nein«, sagte Lan in bestimmendem Tonfall. »Du bleibst bei deiner Familie. Sie brauchen dich jetzt.«
*
Ly hielt es kaum aus, nichts zu tun. Aber Lan hatte natürlich recht. Er musste sich um Thuy und die Kinder kümmern.
Er nahm seine Tochter mit hinüber ins Krankenhaus, wo man ihnen sagte, der zuständige Arzt sei noch immer im Operationssaal. Ly glaubte langsam nicht mehr, dass das stimmte. Er gab der diensthabenden Schwester, diesmal war es eine andere Frau als am Vormittag, 200 000 Dong und bat sie, den Arzt noch einmal daran zu erinnern, dass
Weitere Kostenlose Bücher